TÜBINGEN/ATHRIBIS. Die Deckenreliefs zeigen Gottheiten, mythologische Figuren und Darstellungen von Sonne, Mond, Sternbildern in unterschiedlichsten astronomischen Konstellationen. Die Reliefs erstrahlen nun wieder in ihrer ursprünglichen Farbenpracht. 30 Restauratoren haben die Konservierung der Decke des Tempels in Esna am Nil abgeschlossen. Mehrere Hundert Figuren hatten die Spezialisten aus Tübingen und Ägypten in einer Kooperation zwischen der Tübinger Uni und dem ägyptischen Ministerium für Tourismus und Altertümer vom Rauch und Schmutz der Zeit befreit.
»Mit dem Abschluss der Deckenrestaurierung hat das Projekt sein erstes und vielleicht wichtigstes Etappenziel erreicht«, sagt Professor Christian Leitz vom Institut für die Kulturen des Alten Orients. In den nächsten Jahren sollen nun vor allem die Innenwände des Pronaos sowie die verbleibenden Säulen vom Ruß befreit werden. Der Kooperationspartner von Leitz in Esna ist Hisham El-Leithy vom Antikenministerium.
»Das vielleicht wichtigste Etappenziel erreicht«
Vom Tempel in Esna, das rund 60 Kilometer südlich des ägyptischen Luxor liegt, ist nur noch die mächtige Vorhalle, Pronaos genannt, erhalten: Mit 37 Metern Länge, 20 Metern Breite und 15 Metern Höhe wurde der Sandsteinbau spätestens unter dem römischen Kaiser Claudius wenige Jahrzehnte nach Christus vor das eigentliche Tempelgebäude gesetzt. Die Lage mitten im Stadtzentrum hat wohl dazu beigetragen, dass die Vorhalle erhalten blieb und nicht wie andere Gebäude während der Industrialisierung Ägyptens als Steinbruch zur Gewinnung von Baumaterial genutzt wurde. Der Tempel von Esna ist (neben Philae, Kom Ombo, Edfu, Dendara und Athribis) einer der sechs großen und noch erhaltenen ägyptischen Tempel aus der griechisch-römischen Zeit zwischen 330 vor bis 350 nach Christus.
Bei der Restaurierung kamen auch fast 200 Tintenaufschriften zutage. Von ihnen hatte man zuvor nichts gewusst. Erst zusammen mit ihnen konnten viele der bunten Darstellungen identifiziert werden. Die thematische Breite der Darstellungen unterstreicht nach Angaben des Tübinger Ägyptologen Dr. Daniel von Recklinghausen die große Bedeutung, die der Astronomie im alten Ägypten zukam. Zu den Darstellungen gehören beispielsweise der tägliche Lauf der Sonne, die Mondphasen und die unterschiedlichen Nachtstunden oder auch der Neujahrstag. Im zuletzt freigelegten Abschnitt spielten die Darstellungen der Gottheiten Orion, Sothis und Anukis eine wichtige Rolle, erklärt von Recklinghausen.
Orion steht stellvertretend für das gleichnamige Sternbild. Neben ihm dargestellt wird Sothis. Das sei die altägyptische Bezeichnung des Sternbildes Sirius, erklärt Professor Leitz. »Sirius ist im Jahresverlauf 70 Tage lang am Sternenhimmel unsichtbar, bis er im Osten wieder aufgeht.« Dieser Zeitpunkt war demnach im alten Ägypten der Neujahrstag und kündigte zugleich den Beginn der jährlichen Nilüberschwemmung an. Die dritte Göttin Anukis war im Verständnis der Ägypter hingegen verantwortlich für den Rückgang der Nilflut etwa 100 Tage später.
»Jeden Morgen lade ich Bilder von Ostraka hoch«
Leitz reist Mitte Dezember zum x-ten Mal nach Ägypten. Dieses Mal geht es um ein anderes großes Projekt der Tübinger. Athribis bei Sohag liegt 200 Kilometer nördlich von Luxor. Auf mehr als 30 Hektar erstreckt sich die archäologische Zone, die noch größtenteils unerschlossen ist. Tempelbezirk, Siedlung und Nekropole müssen dort noch ausgegraben werden. Die Tübinger kümmern sich um den Tempelbezirk mit seinen beiden Tempeln. Einer liegt noch begraben unter meterhohem Sand. Von ihm sind nur Teile eines großen Pylons sichtbar, also einer Toranlage mit Türmen. Spannend für Leitz ist nun, was noch zwischen dem schon sehr stattlichen Vorbau und der Felswand dahinter in rund 70 Meter Entfernung zutage kommen wird. Weil nur noch wenig Platz für den normalerweise auf den Vorbau folgenden Hof und den Tempel übrig bleibt, könnte es sich auch um einen Felsentempel handeln. »Vielleicht ist das aber auch nur Wunschdenken. Das werden wir in dieser Runde der Grabung noch nicht klären können«, sagt Leitz.
Der andere der beiden Tempel ist im Rahmen eines Tübinger Projekts schon bis 2019 ausgegraben worden. Bei diesem seit 2003 von Leitz in Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Altertumsministerium geleiteten Vorhaben sind die verschütteten Teile also schon freigelegt und die Darstellungen und Texte aufgenommen und ausgewertet worden. Die Bau- und Dekorationszeit der Repit-Tempelanlage umfasste eine Zeitspanne von mehr als 200 Jahren von Ptolemaios XII. bis zu den römischen Kaisern Domitian und Hadrian (117 bis 138 nach Christus). Um die verschütteten Räume ganz ausgraben zu können, hatten die Arbeiter rund 400 verstürzte und bis zu 34 Tonnen schwere Blöcke geborgen, die nun in Steinlagern untersucht werden.
In dem Tempel verehrten die Menschen die Götter Min-Re, seine Gattin Repit und ihren Sohn Kolanthes. Min-Re verkörperte die Fruchtbarkeit und wird mit erhobenem Arm und mit einer Doppelfederkrone auf dem Kopf dargestellt. Die löwenköpfige Repit ist mit einer Sonnenscheibe mit Uräusschlange bekrönt. Kolanthes wird als typischer Kindgott mit Jugendlocke und Zeigefinger an der Lippe dargestellt. Neben Kolanthes werden im Tempel auch die Kindform des Horus sowie Isis und Osiris verehrt. Fast alle Räume sind mit Texten und Darstellungen reliefiert. Das erhaltene Textprogramm besteht aus 1.200 verschiedenen Inschriften mit sehr vielen Texten ohne Parallele. Einer der wichtigsten und interessantesten erhaltenen Texte ist die sogenannte Min-Inschrift.
Spätestens nach dem Verbot heidnischer Kulte im Jahr 380 baute man rund um den Tempel ein Nonnenkloster, während einige Tempelräume als Werkstätten dienten. Nach der arabischen Eroberung Ägyptens 642 gab man das Kloster sukzessive auf, und das Tempelgebäude diente unter anderem der Entsorgung von Müll wie etwa Keramik, aber auch von Werkzeugen, Glas, Perlenschmuck, Ostraka (beschriftete Tonscherben) und sehr kleinen Papyrusfragmenten.
»Bislang wurden mehr als 27.000 Ostraka gefunden, mehr als an jedem anderen Ort in Ägypten. 75 bis 80 Prozent sind in Demotisch beschriftet. Das ist eine ägyptische Kursivschrift. 15 Prozent sind Griechisch, daneben gibt es auch koptische, arabische, hieratische und hieroglyphische Ostraka sowie rund 4 Prozent Bildostraka.« Leitz erzählt: »Jeden Morgen lade ich Bilder von 60 bis 80 Ostraka hoch, die der Grabungsleiter geschickt hat, und schaue sie mir an. Vieles ist Müll, also Teile, die sehr klein sind und nur mit ein paar Zeichen darauf, aber es sind doch auch brauchbare dabei.«
»Es muss auch eine Schule gegeben haben«
Leitz ist kein Archäologe, sondern Philologe. Das ist außergewöhnlich. Normalerweise sind es Archäologen, die solche Grabungen leiten. Aber in dem Fall ist das ein Glück, denn er will möglichst viel entziffern von dem, was auf den Tonscherben steht. »Man könnte jetzt sagen, man fischt nur ein paar diagnostische Scherben heraus und alles andere kommt sofort in die Schubkarre und auf die Steinhalde«, sagt er – und das wurde zumindest an vielen Ausgrabungsstätten auch so gehandhabt. »Bei uns haben die Arbeiter aber die Aufgabe, die Scherbe auch umzudrehen und zu schauen, ob da nicht doch etwas drauf ist.«
Auf einer Scherbe ist beispielsweise fünfmal das griechische Alphabet drauf. »Zwischen Tempel und Berg muss es mit Sicherheit eine Schule gegeben haben«, sagt Leitz. »Dort haben die Kleinen das Griechische gelernt und sind dann auch als ägyptische Schreiber in der Schreibschrift Demotisch ausgebildet worden. Rechenaufgaben und alles Mögliche, was man in der Tempelverwaltung braucht, haben sie dort gelernt.« »Wir untersuchen jetzt im Auftrag der Deutschen Forschungsgesellschaft das Gelände um den Tempel und hoffen, dass wir weitere Tempelanlagen finden und auch sogenannte Funktionsgebäude wie Färberei, Werkstätten oder eine Bäckerei.« (GEA)