TÜBINGEN. Es geht los. Für gut 5.000 junge Frauen und Männer beginnt dieser Tage mit dem Wintersemester das Leben zwischen Seminarraum und Hörsaal, Labor und Mensa an der Uni Tübingen. Von ihnen starten 180 im Studiengang Humanmedizin. In sie werden große Erwartungen gesetzt. Wenn sie in sechs Jahren fertig sein werden und dann noch ihre Facharztausbildung absolviert haben, sollen sie helfen, den allseits beschworenen Ärztemangel zu lindern.
Ginge es nach Gesundheitsminister Karl Lauterbach, sollten mit Blick auf den Ärztemangel noch viel mehr Abiturienten ein Medizinstudium beginnen können. 5.000 zusätzliche Studienplätze hat er gefordert, der Deutsche Ärztetag forderte zuletzt sogar 6.000 Plätze mehr.
Hört sich gut an, doch die Verantwortlichen an der Medizinischen Fakultät der Uni Tübingen sind da eher zurückhaltend. »Wir haben nichts gegen einen moderaten Zuwachs«, sagt Dekan Professor Bernd Pichler, Leiter der Abteilung für Präklinische Bildgebung und Radiopharmazie. »Aber die Frage ist: Schiebt man immer mehr rein ins System oder versucht man, das besser zu nutzen, was im System ist?« Und Studiendekan Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Psychosomatik, ergänzt: »Die Bedingungen, um als Arzt zu arbeiten, dürften nicht unattraktiver werden. Doch das passiert gerade.«
»Ein sechsjähriges Medizinstudium kostet etwa 220.000 Euro«
Aber Ärztemangel? In Deutschland? Wo es noch nie so viele Ärzte gab wie heute? Ende 2022 waren bei den Landesärztekammern insgesamt mehr als 420.000 berufstätige Ärztinnen und Ärzte gemeldet. Im internationalen Vergleich kommen in Deutschland 4,5 praktizierende Ärzte auf 1.000 Einwohner, in Österreich sind es 5,5 Ärzte, in der Schweiz aber nur 4,4. In Frankreich sind es mit 3,4 deutlich weniger, in Großbritannien 3 und in Japan sogar nur 2,6. »Im internationalen Vergleich«, sagt Stephan Zipfel, »sind wir bei der Ärztedichte ziemlich gut aufgestellt. Aber wir haben ein Verteilungsproblem.« Eigentlich ein doppeltes Verteilungsproblem, denn die Ärztedichte ist höchst unterschiedlich, sowohl regional als auch nach Fachrichtungen.
Dazu kommt, dass die Ärzteschaft altert. In Deutschland und auch in Baden-Württemberg ist mittlerweile etwa jeder zweite Arzt 50 Jahre und älter. »Der Nachwuchs macht sich rar«, kommentierte die Landesärztekammer die Statistik für das Jahr 2022: Der Anteil der unter 35-jährigen Ärztinnen und Ärzte ist von 25,2 Prozent im Jahr 1991 auf 19 Prozent Ende 2022 gesunken. Dagegen wird wohl mehr als ein Viertel der Kinder- und Jugendärzte bis 2025 aus dem Beruf ausscheiden.
Also doch mehr Studienplätze als Lösung des Problems? Vor vier Jahren hat das Land Baden-Württemberg 150 zusätzliche Studienplätze geschaffen, 30 für jede der fünf Medizinischen Fakultäten. Derzeit bietet die Universität Tübingen in Humanmedizin jeweils zum Semesterbeginn rund 180 Plätze an, also 360 im Jahr. Auf einen Platz kommen etwa 25 Bewerber. Insgesamt waren im vergangenen Jahr 4.717 Studierende in Medizin eingeschrieben, allerdings verteilt auf mittlerweile 16 Studiengänge wie Molekularmedizin oder Pflege- oder Hebammenwissenschaften.
Dass die Forderungen des Bundesgesundheitsministers und des Ärztetags nicht einhellig Begeisterung ausgelöst haben, ist verständlich. Die Finanzierung ist nämlich Ländersache, und Studienplätze in Medizin sind teuer. Während ein Studium in den Sozialwissenschaften oder Jura laut Statistischem Bundesamt etwa 4.500 Euro im Jahr kostet und ein Mathematik-Studium rund 10.000 Euro, kosten die Grundmittel für einen Medizin-Studienplatz etwa 30.000 Euro im Jahr. »Alles in allem«, erklärt Studiendekan Stephan Zipfel, »kostet ein sechsjähriges Medizinstudium etwa 220.000 Euro.«
STUDIENPLÄTZE IN HUMANMEDIZIN
Was die Landesregierung sagt
In Baden-Württemberg sind nach Angaben des Wissenschaftsministeriums ab dem Wintersemester 2020/21 in zwei Stufen insgesamt 150 zusätzliche Studienanfängerplätze Humanmedizin an den fünf Medizinischen Fakultäten eingerichtet worden. »Damit standen 2020/2021 insgesamt 1.631 Studienanfängerplätze und 1.699 Studienanfängerplätze im Studienjahr 2021/22 zur Verfügung. Dementsprechend wird es 2026 bereits 900 zusätzliche Studierende in Regelstudienzeit (zwölf Semester) geben.« Gab es im Studienjahr 2017/18 noch 1.530 Plätze für das erste Fachsemester in Humanmedizin, sind es seit 2022/23 nun 1.700 Studienplätze. Für diesen Studienplatzausbau wird das Land im Endausbau jährlich 30 Millionen Euro zusätzlich aufwenden. Der Studienplatzausbau, so das Ministerium, »wurde und wird als notwendig betrachtet, um einem Ärztemangel vorzubeugen. Bei Ausbildungszeiten von zwölf Jahren (inklusive Facharztausbildung) werden sich Effekte allerdings erst langfristig zeigen«. Auf die Frage, ob geplant ist, die Zahl der Studienplätze in Humanmedizin weiter zu erhöhen, verweist das Ministerium lediglich auf die bereits beschriebene Aufstockung. Und: »Sozial- und Wissenschaftsministerium stehen weiterhin im engen Austausch: Gemeinsam wird der Studienplatzausbau begleitet und evaluiert.« Heißt im Klartext wohl: Ein weiterer Ausbau ist im Moment nicht vorgesehen. (pp)
Die Gründe sind vielfältig. Das Studium ist sehr breit angelegt. In den ersten Semestern geht es vor allem um die naturwissenschaftlichen Grundlagen mit vielen Praktika. Die Ausbildung am Krankenbett schließlich erfolgt in Kleingruppen – vier Studierende auf einen Arzt. Dazu kommt die Ausbildung am Simulator, komplexe Geräte, die sehr viel Geld kosten. Und die zehn Plätze, an denen mit Leichen gearbeitet wird, sind eingerichtet wie hochmoderne Operationssäle. »Das kostet nicht nur sehr viel Geld«, betont Bernd Pichler, »sondern ist auch sehr betreuungs- und personalintensiv.«
Würde es, wie von Karl Lauterbach gefordert, tatsächlich 5.000 zusätzliche Studienplätze in Humanmedizin geben und diese würden gleichmäßig auf die 39 Medizinischen Fakultäten in Deutschland verteilt, entfielen etwa 130 auf Tübingen. »Das wäre ein Drittel mehr Studierende pro Jahr«, rechnet Bernd Pichler vor. »Die müssten wir ja irgendwie unterbringen.« Was ohne zusätzliche massive Investitionen in die Ausbildung nicht gehen würde.
Weil die aber längst nicht garantiert sind, hat der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt schon mal gewarnt: Die Qualität der Ausbildung sei gefährdet, wenn man nicht bereit sei, »die zusätzlichen Studienplätze auch wirtschaftlich zu unterfüttern«. Auch die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) ist skeptisch. »Es sollen in kürzester Zeit mehr Studienplätze geschaffen werden, was völlig unrealistisch und nicht umsetzbar ist, da sich Raumkapazität und insbesondere die Zahl der Lehrtätigen nicht aus dem Nichts erhöhen lassen«, sagt Alexander Schmidt, Bundeskoordinator für medizinische Ausbildung der bvmd. Ihre Forderung: eine Reform des Medizinstudiums und mehr Qualität statt Quantität.
Auch der Präsident des Medizinischen Fakultätentags, Matthias Frosch, hält eine Reform des Studiums für wichtiger als mehr Studienplätze. Zum Beispiel müssten die künftigen Ärzte vermehrt auf eine alternde Gesellschaft, eine digitalisierte und vernetzte Medizin und die Arbeit in multiprofessionellen Teams vorbereitet werden, erklärte er im Januar.
»Die Bedingungen als Arzt zu arbeiten, dürfen nicht unattraktiver werden«
In diese Richtung denken auch Bernd Pichler und Stephan Zipfel: »Es ist nicht nur eine Frage der Köpfe, sondern auch der Strukturen. Deshalb muss man das gesamte System weiterentwickeln, die ganze Breite der Gesundheitswissenschaften.«
Muss man wirklich mehr Ärzte ausbilden oder ist es sinnvoller, andere Bereiche des Gesundheitssystems zu fördern? Bernd Pichler denkt dabei etwa an den neuen Studiengang Pflegewissenschaften. »Wo sind hier die Schnittstellen? Die sehe ich noch nicht so richtig.« Dabei gibt es genug Aufgaben, die heute von einem Arzt erledigt werden müssen, die aber genauso eine gut ausgebildete Pflegefachkraft übernehmen könnte. Was auch deren Beruf aufwerten würde.
Die Abwanderung von Ärzten in andere Länder mit besseren Arbeitsbedingungen, etwa in die Schweiz, ist zwar auch ein Faktor. Dem gegenüber steht aber auch eine starke Zuwanderung, erklärt Stephan Zipfel: »Wir haben einen großen Anstieg bei ausländischen Ärzten.« Notwendig sind auch neue Beschäftigungsmodelle. Für viele Ärztinnen und Ärzte ist es nicht mehr attraktiv, von 7 bis 20 Uhr in einer eigenen Praxis zu arbeiten, sich mit unendlich viel Bürokratie herumzuschlagen und dann noch ein großes wirtschaftliches Risiko zu tragen. Von 2012 bis 2022 ist die Zahl der Arztpraxen in Deutschland um 7,6 Prozent gesunken. »Das herkömmliche Praxis-Modell«, beobachtet Stephan Zipfel, »verliert an Bedeutung.«
Wichtiger werden andere Formen wie etwa medizinische Versorgungszentren, in denen Ärzte als Angestellte mit geregelten Arbeitszeiten beschäftigt sind. Umso mehr, als mittlerweile zwei Drittel der Erstsemester Frauen sind, die – Stichwort Familie – gern in Teilzeit arbeiten. »Dann«, sagt Bernd Pichler, »braucht es aber auch genug Kitas mit entsprechenden Öffnungszeiten.« Derzeit arbeiten bundesweit von den angestellten Ärzten 14 Prozent der Männer und 42 Prozent der Frauen in Teilzeit. Bessere Arbeitsbedingungen könnten hier ein Anreiz sein, die Arbeitszeit aufzustocken.
Was das regionale Verteilungsproblem betrifft, gibt es seit drei Jahren an den Unikliniken des Landes das Format Landarzt-Track. »Das ist nicht zu verwechseln mit Landarztquote«, betont Stephan Zipfel. »Hier geht es nicht um Zwang, sondern darum, mit den Studierenden frühzeitig einen Kontakt in die Regionen und zur Hausarztmedizin herzustellen.«
In den Lehrpraxen können diese lernen, wie man ein EKG macht oder eine Ultraschall-Untersuchung. Im Moment läuft der Landarzt-Track im Kreis Calw, dann sollen Freudenstadt, Reutlingen und der Zollernalbkreis folgen. Das Projekt, findet Stephan Zipfel, ist ganz gut angelaufen. Die Hoffnung ist, dass junge Mediziner, die aus der Region kommen, nach der Ausbildung auch dorthin zurückkehren: »Wenn junge Leute das Gefühl haben, dass sie gut angebunden sind, etwa mit Telemedizin, und ein Netz von Ansprechpartnern haben, dann wird auch die Arbeit auf dem Land attraktiver.« (GEA)