Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich frühzeitig rund sechzig Demonstranten versammelt. Auch Polizei war wieder mit zahlreichen Beamten vertreten, wobei Kollegen der Justiz auch den Zugang zum Gerichtssaal streng kontrollierten und weitgehend absperrten. Im Saal 36 selber verfolgten nur ganz wenige Personen die gut zweistündige Verhandlung.
Beschuldigt war ein 31-jähriger mit Hauptwohnsitz in Hannover, der - als zweite Aktion während der Sitzung im mit Publikum überfüllten Ratssaal - eine Protestnote verlesen hatte und der mehrfachen Aufforderung Palmers nicht nachgekommen war, die Deklaration zu beenden und den Saal zu verlassen. Erst nachdem erneut Polizeibeamte erschienen waren, ließ er sich wohl weitgehend widerstandslos hinausbegleiten und seine Personalien aufnehmen. Der Mann hatte gegen eine Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt. Er äußerte sich auf die Nachfrage von Amtsrichterin Sina Völpel eingangs weder zur Person noch zur Sache.
Eine halbe Stunde vor seiner Aktion im Rathaus hatten damals vier Demonstranten vor dem Verwaltungstisch ein Banner entrollt und lautstark gegen den anstehenden Beschluss des Gemeinderats protestiert, ein Grundstück für Forschungen zu Künstlicher Intelligenz (KI) zur Verfügung zu stellen, die der Amazon-Konzern dort beginnen will. Eine Aktivistin warf sich schreiend zu Boden und wurde von den Beamten aus dem Saal getragen.
Mit einer Mehrheit von rund zwei Dritteln hatte sich der Gemeinderat danach doch für die Vergabe des Grundstücks an Amazon entschieden. Während der Ablauf der Aktion nur in der strafrechtlichen Gewichtung strittig ist, machte Verteidiger Christos Psaltiras etwas geltend, was Juristen ein Verfahrenshindernis nennen. Zum einen bestritt er vorsorglich die Berechtigung und Verwertbarkeit von Tonaufnahmen, die bei der turbulenten Sitzung gemacht wurden, als Beweismittel.
Zum anderen monierte er, dass Palmer seine Strafanzeige »als Vertreter der Universitätsstadt Tübingen« unterzeichnet habe. Hausrecht für den polizeilich durchgesetzten Platzverweis habe er bei dieser Situation aber nur in seiner Funktion als Vorsitzender des Gemeinderats ausüben können. Ergo sei seine später in der engeren Rathausspitze beschlossene Strafanzeige möglicherweise verwaltungsrechtlich unzulässig. Da Hausfriedensbruch ein Delikt ist, für das zwingend der Antrag eines dafür Berechtigten nötig ist, sei das Verfahren deshalb womöglich einzustellen.
Die Richterin räumte nach den Zeugenaussagen ein, dass sie die Frage eingehend verwaltungsrechtlich prüfen müsse und kündigte noch vor den Plädoyers eine mögliche Verschiebung des Urteilsspruchs an. Staatsanwalt Tobias Freudenberg hatte dann für den nach seiner Ansicht ausreichend nachgewiesenen Hausfriedensbruch einen Strafe von 60 Tagessätzen à 30 Euro gefordert. Mit der Aktion habe der 31-Jährige »den Rechtsfrieden schwer erschüttert«, die freiheitlich-demokratische Grundordnung »wesentlich berührt und mit Füßen getreten«. Die gewählten Gemeinderäte hätten sich auch persönlich unter Druck gesetzt gefühlt. Den Wortlaut des vom OB unterschriebenen Strafantrags hielt er für »nicht entscheidend«.
Der Verteidiger forderte zunächst die Einstellung des Verfahrens mangels rechtsgültigen Strafantrags, in der Sache selbst aber auch Freispruch für seinen Mandanten. Es sei überhaupt nicht klar, ob er die Aufforderungen des Oberbürgermeisters, das Verlesen zu beenden und den Saal zu verlassen, in dem entstandenen Lärm und Trubel überhaupt habe wahrnehmen können. Zudem sei er der entsprechenden Aufforderung der erschienenen Polizeibeamten dann sofort und ohne Widerstand nachgekommen.
In seinem Letzten Wort verlas der Beschuldigte erneut eine Erklärung, in der er erläuterte, wie die von Amazon geplante KI-Forschung über die amerikanische Behörde IARPA auch für militärische Zwecke (»Dual Use«) genutzt werden könnte. Vor dem Gerichtsgebäude hatten einige Demonstranten mit Infos, dazu Ballwerfen auf Pappbuchstaben der US-Behörde und zu Banjo- und Taschentrompeten-Musik ausgeharrt. Mit Applaus und Jubel begrüßten sie den Beschuldigten, als er draußen vor der Tür die Verlegung des Urteilsspruch auf den 2. Dezember, 8 Uhr, bekanntgab. (GEA)