TÜBINGEN. »Die Corona-Delle ist überwunden«, freut sich Wiebke Ratzeburg. Die Besucherzahlen im Tübinger Stadtmuseum haben wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 40.000 Besucher. Damit der Andrang möglichst anhält, hat man ein attraktives Ausstellungs-Programm zusammengestellt.
2021 ist das Museum in der Kornhausgasse von der Stiftung Lebendige Stadt als eines der besten Heimatmuseen Deutschlands ausgezeichnet worden. Das verpflichtet. Auch in Zukunft bleibt der Besuch kostenlos. Bei allem, was man vorhat, wird darauf geachtet, dass die Präsentation Spaß macht und womöglich zum Mitmachen einlädt.
Interaktive Stadtkarte
Eine besondere Erfolgsstory hat Evamarie Blattner vorzuweisen. Zum Thema Kolonialismus hat sie eine interaktive Stadtkarte ins Netz gestellt, auf der die Orte in Tübingen verzeichnet sind, die damit in Zusammenhang stehen. Und das wird mehr als häufig genutzt. Blattner weiß, dass Lehrer das in ihren Unterricht einbauen. Aber das erklärt nur zum Teil die unglaubliche Zahl von 440.000 Klicks im Jahr. Also auch digital ist das Stadtmuseum gefragt.
Dem Tübinger Wochenmarkt ist die erste Ausstellung im Kornhaus gewidmet. Marina Chernykh hat viel Wissenswertes zusammengetragen und dabei den Blick weit in die Vergangenheit gerichtet. Der Tübinger Pfennig von 1150 ist der Beweis, dass schon damals ein Markt existierte. Wer durfte verkaufen? Nur Tübinger. Auswärtige waren als Händler und Erzeuger nicht erwünscht. Wie sah das Angebot aus? Welche Preise wurden verlangt? Was wurde als Zahlungsmittel akzeptiert? Wo kommen heute die Äpfel her - und wie sieht die Klimabilanz bei denen aus der Gegend und denen aus dem fernen Neuseeland aus? Genug Stoff für eine informative und kurzweilige Schau. Sie wird am 23. Februar eröffnet. Und völlig klar: Es wird Mitmach-Stationen geben.
Kometenhafter Aufstieg eines Tübinger Malers
Einen großen Sohn der Stadt, den bisher höchstens absolute Insider kannten, stellt Evamarie Blattner vor. Jeremiah Meyer stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er wurde 1735 geboren, kam später nach England und erlebte dort einen kometenhaften Aufstieg als Miniaturmaler. Der Tübinger avancierte zum Hofmaler. Vor Aufträgen hat er sich nicht retten können. 800 Werke sind bekannt. Viele befinden sich heute im Besitz der englischen Königsfamilie und im British Museum. Blattner hat die ungewöhnliche Geschichte recherchiert und wird sie zusammen mit den Werken im Mini-Format Mitte Oktober präsentieren.
Passend zu Meyers Miniaturen wird sich der Künstlerbund mit dem Thema Porträt-Malerei befassen. In der Reihe Kunst im Dialog werden zeitgenössische Künstler eingeladen, neue Kunstwerke in der Auseinandersetzung mit dem Alten zu schaffen.
Porträts in ganz anderer Form hat Wilhelm F. Gugel geschaffen. Der 1951 geborene Künstler hat die Veränderungen in der Tübinger Unterstadt mit seinen Aquarellen festgehalten. Wiebke Ratzeburg freut sich, dass mit der Ausstellung ein Stück Stadtteilgeschichte wieder lebendig wird und die Heimat der Gôgen zu sehen ist, wie sie vor 50 und mehr Jahren ausgesehen hat.

Einen wahren Kriminalfall hat Florian Mittelhammer recherchiert. Der neue Leiter des Museums im Hölderlinturm war im Staatsarchiv in Sigmaringen und hat dort die Polizeiakten im Hinblick auf den Brand im Dezember 1875 durchforstet. Mehr als ein Dutzend Zeugen waren damals befragt worden. Was Mittelhammer zusammengetragen hat, hört sich an wie eine Folge von »XY ungelöst«. Und es wird klar: Ziemlich sicher handelte es sich um Brandstiftung an einer Stelle, wo später der Hölderlinturm wieder aufgebaut wurde.
Zu den Besonderheiten im Stadtmuseum gehört der Nachlass der Lotte Reiniger. Die Künstlerin wäre am 2. Juni dieses Jahres 125 Jahre alt geworden und erlebt eine regelrechte Renaissance, wie Ratzeburg und Blattner festgestellt haben. »Wir kriegen wöchentlich Anfragen.« Mal geht's einem Forscher um den Wortlaut eines Briefes, mal will jemand Bildmaterial - oder ein Musiker teilt mit, er habe etwas komponiert, zu dem Scherenschnitt-Szenen im Stil der Lotte Reiniger passen würden. Auch ein Theaterstück ist in Vorbereitung.
Am 17. Februar bekommt Reiniger in Los Angeles posthum den Annie Award verliehen für ihr Lebenswerk. Und die deutsche Post plant eine Sonderbriefmarke aus Anlass des Jubiläums. Versteht sich, dass man im Stadtmuseum alles aufmerksam verfolgt und die Künstlerin auch in Tübingen entsprechend gewürdigt werden wird. (GEA)