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Narren in Rottenburg fast vom Winde verweht

Beim größten Umzug der Region trotzen rund 20 000 Zuschauer und Akteure in Rottenburg den Sturmböen

Im Hexentopf: Andenken vom Umzug in Rottenburg.
Im Hexentopf: Andenken vom Umzug in Rottenburg. Foto: Jürgen Meyer
Im Hexentopf: Andenken vom Umzug in Rottenburg.
Foto: Jürgen Meyer

ROTTENBURG. Warum kann eigentlich nicht zu allen vier Jahreszeiten Fasnet sein? Hierzulande kämpft die Bahn bekanntlich mit vier großen Problemen: Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Zugreisende müssen jedes Mal bangen, ob ihr Zug pünktlich kommt.

In Rottenburg kann man nicht nur seine Uhr nach dem närrischen Fahrplan stellen – der Ommzug setzte sich wie seit Narrengedenken auch am Sonntag pünktlich um 13.30 Uhr in Bewegung. Mehr noch: Den Fasnetsakteuren gelingt es sogar jedes Mal, Sonderzüge der Deutschen Bahn auf der Strecke zwischen Tübingen und Horb zu organisieren, während sie andernorts erst gar nicht fahren. Glückselige Fasnet! Für Berufspendler in überfüllten Waggons ist am Aschermittwoch leider wieder alles vorbei. Das Leben in vollen Zügen genossen gestern aber erst einmal zwischen 15 000 (Angabe fürs Finanzamt) und 20 000 Besuchern (Eigenlob der Narrenzunft) entlang der Umzugsstrecke durch die beiden Altstädte von Rottenburg und Ehingen. Nicht mitgerechnet die wegen des Fasnets-Coronavirus freiwillig in ihren Häusern bleibende und von den geschmückten Fenstern aus mitfeiernden Anwohner.

Obwohl heftige Sturmböen durch die Gassen pfiffen, wurde kein einziger Zuschauer vom Winde verweht. Dafür gab’s Dauerkonfetti-Berieselung. Rund neunzig Zünfte und Laufgruppen hatten sich auf die 1,7 Kilometer lange Strecke begeben. In Zeiten von widerwärtigem Rassismus zeigt sich Rottenburg in seiner Tradition als weltoffene Römerstadt wieder als Schmelztiegel von Kulturen und Religionen, als Bindeglied zwischen Fasnet, Fasching und Karneval.

Kurz bevor der katholische Neckar endet, liefen weit über 3 000 Hästräger friedlich und frech-fröhlich zur Höchstform vor der entbehrungsreichen Fastenzeit auf. Darunter auch viele aus den irrgläubigen evangelischen Flecken im Hinterland, deren prominentester Vertreter, Reutlingens OB Thomas Keck, seinen Sondelfinger Füchsen zuwinkte.

Von germanischer Wintervertreibung steckt in der Narretei nur ein kleiner Prozentsatz in der Größenordnung eines Neandertaler-Genoms. Viele der Fastnachts-Masken und Figuren zeugen von multikultureller Geschichte. In vielen Larven und Symbolen der Hästräger spiegeln sich italienische Einflüsse der Barockzeit und das Brauchtum slawischer und Tiroler Einwanderer wider. Und hätte es die osmanische Janitscharenmusik nicht gegeben, würden beim zweistündigen Ommzug keine Blaskapellen mitmarschieren und zu Narrenmärschen aufspielen. (mey)