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Lotte Reiniger: Als die Silhouetten laufen lernten

TÜBINGEN. »Sie mochte Märchen lieber als Nachrichten«, weiß Susanne Marschall. »Sie war Schattenspielerin, Meisterin der Silhouettenkunst, Trickspezialistin, Choreografin von Tänzen, Märchenerzählerin und Autorin.« Die Rede ist von Lotte Reiniger. Deren Trickfilmkunst war gestern Thema einer Vorlesung der Sommeruni unter dem Titel »Als die Silhouetten laufen lernten«. »Und nicht Walt Disney - wie gerne behauptet -, sondern der deutschen Filmkünstlerin ist der erste abendfüllende und vollkommen erhaltene Animationsfilm der Filmgeschichte zu verdanken«, klärte die Tübinger Medienwissenschaftlerin auf.

Eine Szene aus dem Film »Galathea« (1935) von Lotte Reiniger. Ihr Nachlass wird im Tübinger Stadtmuseum verwahrt. GEA-REPRO
Eine Szene aus dem Film »Galathea« (1935) von Lotte Reiniger. Ihr Nachlass wird im Tübinger Stadtmuseum verwahrt. GEA-REPRO
Eine Szene aus dem Film »Galathea« (1935) von Lotte Reiniger. Ihr Nachlass wird im Tübinger Stadtmuseum verwahrt. GEA-REPRO

24 Bilder in der Sekunde

Lotte Reiniger (1899-1981) »war extrem modern«: Sie mischte verschiedene Kulturen und handwerkliche Traditionen und gab den Märchen, die sie mit ihren Scherenschnittfiguren zum Leben erweckte, eigene Wendungen. Die gebürtige Berlinerin wuchs in einem Umbruch der Lebensformen auf, der sich in ihrem Werk wiederfindet. Das Leben wurde entweder bis ins Detail analysiert oder man floh aus ihm in die Welt der Träume. Neue Körperbilder und Schönheitsideale tauchten auf, der Körper wurde nackt und als Teil der Natur dargestellt, alte Mythen wurden wiederentdeckt. »Griechenland war ein großes Bildarchiv«, so Marschall.

In der Kunst boomten Profilbilder und florale Formen, die Zartheit der Silhouette, das Spiel mit Formenreichtum. Zur szenischen Unterstützung wurden Sequenzen in Farbe getaucht: Blau für die Nacht, Rosa für die Liebe, weil dem Stummfilm die erläuternde Textebene fehlte. Silhouetten waren als Porträtbilder im 18. Jahrhundert sehr beliebt.

Durch ihre Legetechnik von 24 Bildern in der Sekunde auf über mehrere Ebenen angeordneten Glastischen entwickelte Reiniger eine neue Kunst der Bewegungsform im Film. Dadurch waren mehrere Aktionen gleichzeitig möglich, erläuterte Marschall. Reinigers Meisterwerk und der erste animierte Held der Trickfilmgeschichte kam 1926 in den »Abenteuern des Prinzen Achmed« auf die Leinwand. Er feierte in Paris als eine neue Form des Kunstfilms zwischen Jugendstilästhetik, Expressionismus und Zaubermärchen Premiere.

Noch heute werden im Film Bewegungen auf leblose Figuren übertragen. Mittlerweile geschieht das jedoch digital, wie Marschall am Beispiel »Avatar« verdeutlichte. Der US-amerikanische Science-Fiction-Film des Regisseurs James Cameron von 2009 vermischt real gedrehte und computeranimierte Szenen. Große Teile des Films wurden in einem virtuellen Studio mit neu entwickelten digitalen 3-D-Kameras gedreht. »Die Technik ist immer noch so aufwendig wie damals.«

Lotte Reiniger hinterließ ein umfangreiches Werk. Es umfasst über 40 Filme, Scherenschnitte, Zeichnungen, Fotos und Anleitungen zum Silhouettenfilm aber auch Verweise auf die Vorbilder des griechischen, indischen, indonesischen und chinesischen Schattentheaters und Texte über Mozart oder den Tanz. Verwaltet wird der Nachlass von Alfred und Helga Happ aus Dettenhausen. Dort hat Lotte Reiniger auch ihr letztes Lebensjahr verbracht.

»Ein echter Schatz«

Im Tübinger Stadtmuseum ist ihr Werk in einer Dauerausstellung zu sehen. Das ist ein wichtiger Bereich dort. »Und ein echter Schatz«, versichert Marschall. Die Einschätzung von Siegfried Kracauer, einem der Begründer der Filmsoziologie, im Jahre 1947, der Reinigers Figurentheater als »Kunst für Ladenmädchen« bezeichnete und der Künstlerin zugestand, dass sie »anmutig die Schere schwang« und »eine Reihe hübscher Silhouettenfilme« erstellte, erwies sich als grundfalsch. Die Tübinger Medienwissenschaftler haben eine Dokumentation unter dem Titel »Lotte Reiniger - Tanz der Schatten« gedreht, der am 26. Juli erstmals im Kino gezeigt wurde. (GEA)

Filmvorführungen

Aufgrund des großen Andrangs bei der Premiere von »Lotte Reiniger -Tanz der Schatten« wird die Dokumentation von Donnerstag bis Sonntag, 9. bis 12. August, noch einmal im Kino zu sehen sein. Jeweils um 17.15 Uhr gibt einer der Autoren Susanne Marschall, Rada Bieberstein und Kurt Schneider vom Institut für Medienwissenschaft im Studio Museum eine kurze Einführung zum Film und ruft nochmals »Film ab!« An Weihnachten wird der Film über Arte im Fernsehen gezeigt. (GEA)