24 Bilder in der Sekunde
Lotte Reiniger (1899-1981) »war extrem modern«: Sie mischte verschiedene Kulturen und handwerkliche Traditionen und gab den Märchen, die sie mit ihren Scherenschnittfiguren zum Leben erweckte, eigene Wendungen. Die gebürtige Berlinerin wuchs in einem Umbruch der Lebensformen auf, der sich in ihrem Werk wiederfindet. Das Leben wurde entweder bis ins Detail analysiert oder man floh aus ihm in die Welt der Träume. Neue Körperbilder und Schönheitsideale tauchten auf, der Körper wurde nackt und als Teil der Natur dargestellt, alte Mythen wurden wiederentdeckt. »Griechenland war ein großes Bildarchiv«, so Marschall.In der Kunst boomten Profilbilder und florale Formen, die Zartheit der Silhouette, das Spiel mit Formenreichtum. Zur szenischen Unterstützung wurden Sequenzen in Farbe getaucht: Blau für die Nacht, Rosa für die Liebe, weil dem Stummfilm die erläuternde Textebene fehlte. Silhouetten waren als Porträtbilder im 18. Jahrhundert sehr beliebt.
Durch ihre Legetechnik von 24 Bildern in der Sekunde auf über mehrere Ebenen angeordneten Glastischen entwickelte Reiniger eine neue Kunst der Bewegungsform im Film. Dadurch waren mehrere Aktionen gleichzeitig möglich, erläuterte Marschall. Reinigers Meisterwerk und der erste animierte Held der Trickfilmgeschichte kam 1926 in den »Abenteuern des Prinzen Achmed« auf die Leinwand. Er feierte in Paris als eine neue Form des Kunstfilms zwischen Jugendstilästhetik, Expressionismus und Zaubermärchen Premiere.
Noch heute werden im Film Bewegungen auf leblose Figuren übertragen. Mittlerweile geschieht das jedoch digital, wie Marschall am Beispiel »Avatar« verdeutlichte. Der US-amerikanische Science-Fiction-Film des Regisseurs James Cameron von 2009 vermischt real gedrehte und computeranimierte Szenen. Große Teile des Films wurden in einem virtuellen Studio mit neu entwickelten digitalen 3-D-Kameras gedreht. »Die Technik ist immer noch so aufwendig wie damals.«
Lotte Reiniger hinterließ ein umfangreiches Werk. Es umfasst über 40 Filme, Scherenschnitte, Zeichnungen, Fotos und Anleitungen zum Silhouettenfilm aber auch Verweise auf die Vorbilder des griechischen, indischen, indonesischen und chinesischen Schattentheaters und Texte über Mozart oder den Tanz. Verwaltet wird der Nachlass von Alfred und Helga Happ aus Dettenhausen. Dort hat Lotte Reiniger auch ihr letztes Lebensjahr verbracht.