TÜBINGEN. In den USA sind sie bei den Grammys aufgetreten und haben eine Rede vor den Vereinten Nationen gehalten. Die 2013 gegründete siebenköpfige Boygroup BTS, kurz für Bangtan Sonyeondan, übersetzt in etwa »kugelsichere Pfadfinder«, produziert koreanische Popmusik. Das Genre K-Pop ist weit gefasst und enthält Elemente aus Pop, Rock, Hip-Hop und elektronischer Tanzmusik. Damit sind BTS nicht nur in ihrer Heimat Südkorea erfolgreich, sondern weltweit. Sie haben 24 Millionen Abonnenten auf Twitter, brechen einen Rekord nach dem anderen, und »Bravo« berichtet regelmäßig über sie.
Einer dieser Fans ist Sabrina Sell, 21, aus einem kleinen Ort im Saarland. Ihr Haar in einem Pferdeschwanz zurückgebunden, sitzt sie regelmäßig in der Unibibliothek in der Tübinger Wilhelmstraße, schreibt ihre Bachelorarbeit oder bereitet sich auf das Tutorium vor, das sie seit einem Semester für Koreanistik-Studienanfänger abhält. Mit diesem Nebenverdienst kann sie es sich endlich leisten, dem offiziellen BTS-Fanclub beizutreten.
Dabei hatte sie sich in ihrer Schulzeit ursprünglich für Japan interessiert, nicht für Südkorea – bis ihr der YouTube-Algorithmus 2013 koreanische Musikvideos vorschlug. »Was ist dieses K-Pop? Ich hab’ mir die Videos tonnenweise angeschaut.« Später ist sie auf koreanische Fernsehserien aufmerksam geworden. Ihre Entscheidung, Koreanistik zu studieren, basiert zwar auf Interesse an koreanischer Populärkultur, lag jedoch auch am Mangel an Alternativen. »Jetzt studier’ ich Koreanistik nur aus Jux«, sagt sie und lacht.
Als Sabrina im Oktober 2016 in Tübingen angefangen hat, war ihr Jahrgang der erste mit mehr als einhundert Studienanfängern. Fünf Jahre zuvor waren es 34. Sie glaubt, dass das Interesse an Korea wegen der Verbreitung koreanischer Populärkultur im Internet stetig zunimmt.
»Viele haben Kontakt zur Sprache, weil K-Pop auf Koreanisch gesungen wird«
Diese Einschätzung teilt auch der Direktor des Tübinger Asien-Orient-Instituts, Professor You Jae Lee. »Es sind mehrere Faktoren«, sagt er in seinem Büro in der Wilhelmstraße. Etwa die politische Bedeutung Südkoreas und die Sichtbarkeit der koreanischen Konsumgüter, von Samsung bis zu Autos. »Für die jungen Menschen, die anfangen zu studieren, ist das auch wichtig, aber das Wichtigste ist die Populärkultur.« Viele entwickeln durch die Musik Interesse an Korea und entscheiden sich dann für ein Studium.
Eine Umfrage unter Studienanfängern hat gezeigt, dass die Mehrheit sich vor allem für die koreanische Sprache interessiert und weniger für Geschichte, Kultur oder Gesellschaft. »Viele haben den Kontakt zur koreanischen Sprache, weil K-Pop auf Koreanisch gesungen wird, mit einigen englischen Einsprengseln. Auf dem Weg lernen sie dann schon ein bisschen Koreanisch, aber wollen dann noch besser werden und professioneller lernen«, berichtet You Jae Lee.
So ging es auch Sabrinas Freundin Julia Groß. Die 20-Jährige ist durch zwei Schulfreundinnen auf den Geschmack von K-Pop gekommen. »Die beiden haben auf einer Klassenfahrt ständig koreanische Lieder gesungen«, erzählt Julia. Ähnlich wie Sabrina wusste Julia nach der Schule nicht, was sie machen soll. Nach einem Semester Anglistik in Saarbrücken entschied sie sich dazu, lieber Koreanistik zu studieren. Das Studium in Tübingen hat ihr Sabrina empfohlen, vor allem wegen des integrierten Auslandsjahrs in Korea. In Süddeutschland ist Tübingen der einzige Standort, an dem Koreanistik im Hauptfach studiert werden kann. Wie Sinologie und Japanologie ist Koreanistik nur an wenigen deutschen Universitäten vertreten.
Als der Ansturm auf die Tübinger Koreanistik keinen Abbruch nahm, fiel die Entscheidung, zum Wintersemester 2019/2020 eine Studienplatzbeschränkung einzuführen. Der Hauptgrund: Alle Hauptfachstudierenden müssen zwei Semester an einer koreanischen Universität studieren, doch die meisten sind sehr teure Privatuniversitäten, und jeder neue Studienplatz muss hart verhandelt werden, erklärt der Institutsdirektor. »2018 waren es um die 120 Studienanfänger, das war uns zu viel. Letztes Jahr haben sich etwa 180 Abiturienten beworben.«
Auch an den anderen Universitäten, die Koreanistik als Studienfach anbieten, zeichnet sich diese Entwicklung ab. Während die FU Berlin zum Wintersemester 2011/12 nur 57 Bewerber verzeichnete, waren es letztes Jahr knapp 190. Dort ist mittlerweile ein Notendurchschnitt von 1,8 gefordert. In Bonn und Hamburg gibt es ebenfalls Beschränkungen. Zugenommen hat auch die Anzahl der koreanischen Austauschstudenten in Deutschland. 2010 kamen gerade einmal 57 Koreaner nach Tübingen, aktuell sind es 118.
Sabrina hat bereits zwei Semester in Südkorea studiert, Julia steht das Abenteuer Auslandsjahr nun bevor. Doch der Semesteranfang an ihrer koreanischen Universität wurde wegen des Coronavirus bereits um zwei Wochen verschoben. »Natürlich ist das ein Grund zur Sorge«, sagt sie. »Aber ich hab’ am meisten Angst, dass ich mich nicht verständigen kann oder in der Großstadt zurechtkomme.« Während Tübingen knapp 90 000 Einwohner zählt, hat Seoul fast zehn Millionen Einwohner. Das bedeutet auch, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, ein Noraebang zu besuchen. Norae ist koreanisch für Lied, bang bedeutet Zimmer. In so einer privaten Karaoke-Bar selbst das Mikrofon in die Hand zu nehmen, hat Julia sich fest vorgenommen.
Ist K-Pop also für einen Koreanistik-Boom verantwortlich? Das wäre überspitzt. Doch es ist klar, dass Südkorea das Interesse an seiner Kultur in erster Linie den sozialen Medien zu verdanken hat. Musiker wie BTS haben das Internet gezielt genutzt, um eine Bindung zu internationalen Fans aufzubauen. Nur wegen BTS sollen jedes Jahr 800 000 Touristen in Korea Urlaub machen.
Auch Streaming-Anbieter wie Netflix reagieren auf die Nachfrage nach koreanischen Produktionen. Seit ein paar Jahren wächst dort das Angebot an koreanischen Fernsehserien und Filmen. Aber letztlich dürften die Wenigsten Koreanistik wirklich nur wegen der Populärkultur studieren. »Und die, die das tun, halten nicht lange durch«, sagt Sabrina.
Aktuell gibt es in Tübingen rund 400 Studierende im Bachelor und Master. Aufgrund ihres Wachstums ist die Koreanistik seit Juli 2018 eine eigenständige Abteilung im Asien-Orient-Institut. Zuvor war sie mit der Sinologie zusammen. Allerdings glaubt Lee, dass es in den Regionalwissenschaften Wellen gibt. »In den 1980er-Jahren waren es japanische Popmusik und japanische Comics. Das war voll in, und die japanische Wirtschaft boomte«, erzählt er. »Danach war China das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und alle wollten nach China.«
Jetzt ist es also Südkorea. »Vielleicht hält das noch zehn Jahre, dann schwappt es woanders hin über«, meint Lee. Deswegen wünscht er sich, dass die aktuelle Phase genutzt wird, um die Koreanistik weiter auszubauen und nachhaltige Strukturen aufzubauen. An den wenigen Instituten gibt es höchstens jeweils eine volle Professur. Sabrina möchte nach dem Bachelor einen Master in Koreanistik machen, danach promovieren und eventuell habilitieren für eine Professur. Doch sieht Lee dies als sehr schwierig an: »Da müssten viel mehr Koreanistik-Institute neu aufgebaut werden. Forschungsmäßig ist Korea interessant, aber es gibt viel zu wenig Stellen für den Nachwuchs.«
»Forschungsmäßig ist Korea interessant, aber es gibt viel zu wenig Stellen für den Nachwuchs«
Ein Argument für Korea: die wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland. Für Korea ist Deutschland der wichtigste Handelspartner in Europa mit einem gemeinsamen Handelsvolumen von 27,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017. Daher ist es sinnvoll, Koreanisten zu haben, die sowohl die Sprache sprechen als auch über interkulturelle Kompetenz verfügen.
Lee ist überzeugt, dass seine Absolventen gute Berufsaussichten in der Wirtschaft haben. Zumindest in Deutschland, denn der südkoreanische Arbeitsmarkt ist seit Jahren angespannt, der Konkurrenzdruck hoch. »Die koreanischen Konzerne im Frankfurter Raum suchen unsere Studierenden«, sagt er. Doch auch im Auswärtigen Amt, in der Presse, als Dolmetscher oder Übersetzer seien Koreanisten gefragt. Auch Julia ist zuversichtlich, dass sie nach ihrem Studium einen Job finden wird im kulturellen Bereich.
Die Meinungen über BTS gehen in der Koreanistik auseinander. Doch der Erfolg spricht für die Band. Anfang 2020 hat sie ihr viertes Album »Map of the Soul: 7« herausgebracht. Und es gibt ein weiteres Projekt: »Learn Korean with BTS«. In einer Art virtuellem Klassenzimmer will die Boygroup ihren Fans Koreanisch beibringen, damit sie die Songs verstehen. (GEA)
KOREANISTIK STUDIEREN
Zugangsvoraussetzungen an der Uni Tübingen
Folgende Zugangsvoraussetzungen gibt es an der Uni Tübingen für das Fach Koreanistik: Bachelor:
Informationen zum Auswahlverfahren und Kontaktdaten: https://uni-tuebingen.de/de/53379
Master:
Bewerbung über die Plattform https://movein-uni-tuebingen.moveonnet.eu/