TÜBINGEN. Es war ein »Klassentreffen« der besonderen Art: Zehn Männer, heute zwischen 74 und 78 Jahre alt, trafen einander am Samstag im Tübinger Museum Boxenstop. Alle zehn stammten aus katholischen Kirchengemeinden. Während »Missionarswochen« stellten sich Ordensgemeinschaften vor. Auch die »Weißen Väter«, die um Zöglinge für ihre Missions- und Internatsschule in Haigerloch warben. Diese sollten nach Abschluss von sechs Gymnasialklassen als Missionare nach Afrika gehen.
Meistens, etwa bei Raimund Pousset, aus Heidelberg angereist, sprachen die »Weißen Väter« die Eltern ihrer späteren Zöglinge an. Für Fidel Mathias Fischer, heute aus Sigmaringen, war Haigerloch »mangels einer weiterführenden Schule auf der Alb, wo ich herkomme«, die einzige Möglichkeit, aufs Gymnasium zu gehen. Bei Bernhard Ketterer war es etwas anders: »Die Initiative ging von mir aus.« Eine Schule des Salesianer-Ordens in Donaueschingen habe ihm nicht gefallen. Die Schilderungen der »Weißen Väter« seien wiederum so eindringlich gewesen, dass es für ihn »keine Alternative« gegeben habe: Nach der Volksschule ging er nach Haigerloch um Missionar zu werden.
Dort war er, wie die anderen, am Bau jener Eisenbahn-Modellanlage beteiligt, die nun im Boxenstop zu sehen ist. Die zehn erkannten ihre Arbeit wieder: Das Missionshaus, die Kirche, den Eingang zum Atombunker, auch wenn die Tür damals schäbiger gewesen sei, als die aktuelle. Und den Bahnhof: »Der war auch ein bisschen speziell«, sagte Ketterer, der heute im mittelbadischen Lahr lebt.
Raimund Pousset erinnerte an den Zufall, der die Sache ins Rollen brachte. Sein Mit-Ministrant Rolf Beck aus Geislingen bei Balingen, damals offenbar bereits ein Fan von Modell-Eisenbahnen, hatte einen Katalog des damals führenden Herstellers Märklin mit ins Internat gebracht. »Den Katalog kassierte der Superior ein«, so Pousset. »Zwei, drei Wochen später war ein Schienen-Oval mit einer Eisenbahn und zwei, drei Wägen da!«
Pater Ernst Haag nahm den Bau der Anlage in die Hand. »Er war unser Spiritus Rector. Er wollte uns Jugendlichen ein Ziel geben«, sagte Pousset. Gegen Ende 1962 legte er die Größe der Grundplatte fest und fertigte den Plan für die Gestaltung der Landschaft an. Danach sprach er die Internatsschüler darauf an, ob sie mitarbeiten wollten und verteilte die Aufgaben. Schließlich waren 70, 80 Jungen beteiligt.
Laut Raimund Pousset begannen sie gegen Ostern 1963 mit dem Bau der Anlage. Die grobe Vorarbeit, die Gestaltung der Modell-Landschaft aus Zeitungspapier und Styropor, leistete der Pater selbst. Gewisse Aufgaben, so Fidel Mathias Fischer, der damals zum Styropor kleben eingeteilt war, habe sich Haag nicht aus der Hand nehmen lassen, etwa die Landschaft zu formen, indem er das Styropor mit glühenden Kohlen bearbeitete.
Am Ende entstand eine Landschaft, die Haigerloch nachempfunden ist, jene Landschaft in der die Knaben damals lebten. Bernhard Ketterer gehörte zu jenen, die das Missionshaus bastelten. Raimund Pousset war mit der Anna-Kapelle, sein Bruder Meinolf und Stefan Lutz-Bachmann mit dem Modell der Schlosskirche beschäftigt.
Raimund Pousset ging einer Arbeit etwas widerwillig nach: »Ich war faul, das Sägen war anstrengend.« Vor den großen Ferien hatte er die Fester noch nicht fertig, obwohl ihn der Pater mehrmals darauf hingewiesen hatte. Nach den großen Ferien stellte Pousset fest, dass seine Arbeit währenddessen von Pater Haag erledigt worden war – »ohne ein Wort des Vorwurfs an mich. Das hat mich tief getroffen.«
Ketterer war einer der Ältesten derjenigen, die am Bau der Modelleisenbahn beteiligt waren. Er müsse er von der Schule abgegangen sein, ehe die Arbeiten zu Ende waren: »Ganz fertig habe ich es nicht in Erinnerung.« Mit dem Abstand von rund 60 Jahren blickte er mit Dankbarkeit zurück. Pater Haag und die Arbeit an der Modelleisenbahn hätten ihn geprägt: »Ich habe gelernt, was ich kann. Ich habe Selbstvertrauen gewonnen.«
Das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche schnitt Ketterer am Samstag selbst an. Es beschäftigte auch die anderen der Gruppe. In Haigerloch, waren sich Ketterer, Pousset und Fischer einig, sei keiner der Jungen sexuell belästigt worden. Aus Ketterer wurde im Übrigen kein Missionar. Laut seiner Frau habe es ihn nach der Schule doch nicht nach Afrika gezogen. (GEA)

