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Geschichten von früher: Als die Belsener in Tübingen einfielen

Rund 150 Geschichtsinteressierte ergründen auf einem Spaziergang das alte Leben im Dorf

Im Pausenhof der Oberdorfschule hören rund 150 an der Dorfgeschichte Interessierte den Anekdoten von Berthold Rath (links) und M
Im Pausenhof der Oberdorfschule hören rund 150 an der Dorfgeschichte Interessierte den Anekdoten von Berthold Rath (links) und Matthias Schlegel zu. FOTO: MEYER
Im Pausenhof der Oberdorfschule hören rund 150 an der Dorfgeschichte Interessierte den Anekdoten von Berthold Rath (links) und Matthias Schlegel zu. FOTO: MEYER

MÖSSINGEN-BELSEN. »Der Mangel an jeder Möglichkeit zu einer angemessenen Kost«, führte dazu, dass Pfarrer Ferdinand Gottlob Jacob Müller von einer mehrwöchigen Krankheit befallen wurde, kaum dass er sein Amt in Belsen angetreten hatte. Wieder genesen, hielt er seine erste Predigt – und zugleich seine letzte, weil er als Dozent ans Evangelische Stift Tübingen abberufen wurde.

Ein missglückter Start in die kirchliche Unabhängigkeit des Dorfes in jenen Juli-Tagen des Jahres 1843. Die Belsener waren zu unbekannter Zeit ihrer Eigenständigkeit beraubt worden, sie gehörten »lebendig und tot« zu Mössingen. Seit Jahrhunderten waren alle Versuche gescheitert, sich bürgerlich und kirchlich vom übermächtigen Nachbarort Mössingen zu entsagen. Der hielt die rebellischen Belsener klein, »die Wege waren über aller Begriffe schlecht, es war eine gewöhnliche Sache, dass die Wagen bis auf die Achse versanken«. Die Mössinger Pfarrer hielten nur an Ostern und Pfingsten Predigten, und ab und an Kinderlehren in der Belsener Kirche. »Sonst zu allen Gottesdiensten und Kasualien mussten sich die Belsener in die Peter- und Pauls-Kirche verfügen«. Eine »tief eingefressene Verbitterung« herrschte vor, so die Pfarrchronik – die übrigens bis in die heutige Zeit bei den Alteingesessen noch unterschwellig auszumachen ist.

Belsen 1842 mit eigener Pfarrei

Immerhin reagierte der württembergische König auf die an ihn gerichtete Petition. Wenn zwar nicht eine eigene Markung, so doch die kirchliche Selbstständigkeit ab dem Martinstag 1842, ließ »seine Majestät nach höchster Entschließung« verkünden. Müller, zuvor Pfarrverweser in Aldingen, wurde als erster Pfarrer in Belsen quasi zum Heilsbringer.

Sein früher Weggang wurde zu einem festlichen Trauerzug: »Die Söhne und Töchter der Gemeinde ließen es sich nicht nehmen, ihren geliebten Hirten in sonntäglicher Tracht die drei Wegstunden nach der Universitätsstadt zu geleiten und fahnenschwingend mit ihm über die Neckarbrücke zu ziehen.« Müller muss das sehr peinlich gewesen sein, denn »nicht ohne Mühe gelang es ihm, sein ländliches Gefolge im Gasthof Krone zu verabschieden, und sich so der mutwilligen Kritik seiner Kollegen zu entziehen.«

Lehrer, Lomba und Lädle

Anekdoten und Erzählungen wie diese gab es bei einem zweistündigen Rundgang durch Belsen – »Lehrer, Lomba, Lädle« – von zwei Männern, die im Dorf aufgewachsen sind und sich für dessen Geschichte interessieren: der Kirchengemeinderat Matthias Schlegel und der Diakon Berthold Rath. Ihr zusammengetragenes Wissen teilten sie mit von 150 auf 200 anwachsenden begeisterten Mitläufern.

Im Klassenraum der Oberdorfschule drängen sich die Nachsitzer zu einer  Geschichtsstunde. FOTO: MEYER
Im Klassenraum der Oberdorfschule drängen sich die Nachsitzer zu einer Geschichtsstunde. FOTO: MEYER
Im Klassenraum der Oberdorfschule drängen sich die Nachsitzer zu einer Geschichtsstunde. FOTO: MEYER

Los ging`s mit einer Unterrichtsstunde im mit 150 Nachsitzern überfüllten Klassenraum der Oberdorfschule. »Der Statik wegen bleiben wir im ersten Stock«, so Schlegel augenzwinkernd. Wobei für das wohl schon seit 1635 erste genutzte Schulhaus – vis-a-vis der »Sonne« – eine »Schulstube für 150 Schüler« als Erweiterung geplant war. Es wurde dann 1793 ein Neubau im Schulgäßle (gegenüber dem Gemeidehaus). Die Oberdorfschule wurde 1890 erbaut, mit drei Klassenräumen und zwei Lehrerwohnungen. Die Urgroßeltern so mancher Teilnehmer saßen bereits hier an den Pulten. »Noch 1947 verfügte die Schule nur über vier elektrische Glühbirnen und 25 Kerzen«, erzählte Rath. »Eine Warmwasserheizung folgte 1962 und 1969 ein Schulabort«. Das ortsbildprägende Türmchen mit der Uhr stammt vom Vorgängerbau, dem 1809 eine Glocke eingebaut worden war – »zur vorbeugenden und pünktlichen Erscheinung der Kinder«.

Tatzenschläge bis 1973

Überhaupt: die Erziehung der Schüler verlief auch in Belsen bis 1973 – als die Prügelstrafe in Schulen verboten wurde – äußerst streng. Sogar in der 1967 – wegen der wachsenden Siedlung Bästenhardt – zusätzlich gebaute hochmodernen Grund- und Hauptschule. Für Schulleiter Albert Beck (1948 bis 1968) war das Tatzengeben auf die linke Hand, um die Schönschrifthand zu schonen, bereits ein pädagogischer Fortschritt. Sein Vorgänger Paul Scheihing, so in den Kriegszeit-Erinnerungen von Karl Schauber, »schritt wie ein römischer Tribun zur raschen Exekution und bebte wie ein Turnierpferd mit den Nasenlöchern«, wenn er beide Hände der Schüler schlug. Immerhin ein Fortschritt zu den üblichen Stockhieben aufs Gesäß.

Der Hexenbanner

Eine ganz andere Art von gewissenlos handelnden »Lomba« (Taugenichtse) wurde der Runde mit dem »Steig-Karle« und seinem Sohn aufgezeigt. Die beiden schrieben als »Hexenbanner« unrühmliche Geschichte, als sie noch vor 130 Jahren Geschäfte mit dem Aberglauben der Leute machten. Für gute Bewirtung und Bezahlung bannten sie böse Geister in den Ställen – und rieten bei Zahnweh mit »den Gebeinen der Kröten selbigen zu reinigen, so der Schmerz hinweggeht«.

Vor dem letzen Lebensmittelladen in Belsen gehts ums die Geschichte der »Lädle«. FOTO: MEYER
Vor dem letzen Lebensmittelladen in Belsen gehts ums die Geschichte der »Lädle«. FOTO: MEYER
Vor dem letzen Lebensmittelladen in Belsen gehts ums die Geschichte der »Lädle«. FOTO: MEYER

Am Ende lud Inge Traumann in das letzte noch existierende Lebensmittelgeschäft ein. Das »Lädle« entstand 1911 aus einem Kolonialwarenladen – heute ist es das einzige Geschäft, wo man noch in D-Mark bezahlen kann. Im Hinterzimmer schnitt der Ähne der Familie die Haare der Kunden oder reparierte die Schuhe, abends wurde mit der männlichen Kundschaft bei Most und Bier Stumpen geraucht. »Öffnungszeiten gab es keine: Wer was brauchte, klopfte ans Fenster«. (GEA)