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Familien mit behinderten Pflegekindern: Eine Frage des Glücks

Familien mit behinderten Pflegekindern fordern bundesweit verbindliche rechtliche Regelungen

Gemeinsam glücklich: Gerhard und Ursula Schindler mit ihren beiden derzeitigen Pflegekindern. FOTO: WALDERICH
Gemeinsam glücklich: Gerhard und Ursula Schindler mit ihren beiden derzeitigen Pflegekindern. FOTO: WALDERICH
Gemeinsam glücklich: Gerhard und Ursula Schindler mit ihren beiden derzeitigen Pflegekindern. FOTO: WALDERICH

GOMARINGEN. Als Jessy in Gerhard Schindlers Armen selig lächelnd einschlief, war die Entscheidung gefallen. Drei Wochen später zog das fünfzehn Monate alte Mädchen als Pflegekind bei den Schindlers ein. Monatelang hatte sich das Ehepaar auf diesen Moment vorbereitet. Sie absolvierten den obligatorischen Vorbereitungskurs für Pflegeeltern, durchliefen ein Bewerbungsverfahren mit persönlicher Prüfung, legten ihre polizeilichen Führungszeugnisse vor und warteten einige Monate, bis es zum Erstkontakt kam. Dann aber ging alles sehr schnell.

Das ist nun 15 Jahre her. Aus dem Baby ist eine Jugendliche geworden, sehr geliebt von ihren Pflegeeltern. Vor der Haustüre in Gomaringen steht mittlerweile ein großes Wohnmobil. Angeschafft wurde es, weil Jessy nur liegend im Auto fahren kann. Aber es dient auch als Zuhause auf Zeit. Dann nämlich, wenn die Familie in den Urlaub aufbricht.

»Wir genießen unser Leben sehr, so wie es ist«

Nachdem die beiden gesunden Pflegebrüder von Jessy inzwischen ausgezogen sind, hat sie vor Kurzem ein neues Brüderchen bekommen. Der kleine Paul (Name wurde von der Redaktion geändert) schläft während des Gespräches friedlich in den Armen von Ursula Schindler. Einen ihrer Finger hält er dabei fest umschlungen. Schwerst mehrfachbehinderten Kindern wurde lange Zeit die Fähigkeit, Bindungen einzugehen abgesprochen. Kaum vorstellbar, wer sieht, wie sich das kleine Menschlein an seiner Pflegemutter festhält.

Die Kinderkrankenschwester und der Journalist haben ihren Alltag um ihre pflegebedürftigen Kinder arrangiert. Jessy erlitt einen Sauerstoffmangel während der Geburt, Paul wurde geschüttelt. Sie werden wohl nie selbstständig leben können. Regelmäßig werden die Schindlers mehrmals in der Nacht von einem ihrer Kinder geweckt. Eltern kennen das. In den ersten Jahren der Kinder ist das in der Regel bei allen so. Hier wird es immer so bleiben. »Das ist echt erträglich«, versichert das Ehepaar.

Weniger erträglich finden es die Schindlers allerdings, dass bei behinderten Pflegekindern oft verlässliche gesetzliche Regelungen fehlen. Jessy wird bald 18 Jahre alt sein. Geht es nach ihrer Gomaringer Pflegefamilie, so kann sie für immer bei ihnen leben. Wie es aber funktioniert, dass Jessy dann weiterhin die notwendigen Leistungen erhält, ist nicht klar geregelt. Manchmal könne man sich Unterstützung erstreiten, bis das Kind 21 Jahre alt ist, erzählt Ursula Schindler. Aber was wird dann? Die Pflegeeltern wissen es bisher nicht.

Seit nunmehr zwölf Jahren soll das Kinder- und Jugendhilfegesetz reformiert werden. Bisher sind für die gesunden Pflegekinder die Jugendämter zuständig, die behinderten Kinder sind bei der Sozialhilfe untergebracht. Eine inklusive Lösung soll es geben, in der ein Amt für alle Kinder zuständig ist. Die kam allerdings bis Ende vergangenen Jahres nicht zustande. Eine Übergangslösung war bis Ende 2018 befristet und gilt nun auch 2019. Danach soll das Bundesteilhabegesetz greifen, das Leistungen für Pflegekinder mit Behinderung allerdings überhaupt nicht regelt. »Dann sind wir endgültig im rechtlichen Vakuum«, sagen die Schindlers.

Das geht zulasten der Kinder. Während für gesunde Kinder die Unterbringung in Familien erste Wahl ist, gibt es für Kinder mit Behinderungen eine solche Priorisierung nicht mehr. Dabei kann eine Einrichtung vieles gar nicht leisten, was in einer Familie zum Alltag gehört. An erster Stelle stehen dabei die Bezugspersonen. Während sie im Heim zwangsläufig ständig wechseln müssen, haben die Kinder in einer Familie einen festen Rahmen mit Menschen, die sie täglich umgeben und versorgen. Dem kleinen Paul hat das schon geholfen, sagt Ursula Schindler. In den wenigen Wochen, die der kleine Junge bei ihnen zu Hause lebt, hat er schon viele Fortschritte gemacht hat. Er weint viel weniger als am Anfang, ist viel wacher. Auch seine steifen Beine seien schon wesentlich beweglicher geworden. Bei den Schindlers bekommt der Junge mehrmals täglich Physiotherapie. Mehr als eine Einrichtung leisten könnte.

Die Kinder profitieren also sehr von der familiären Unterbringung. Sie sei aber auch deutlich günstiger als in einer Einrichtung, sagen die Schindlers. Die Gesetzeslage zwingt die beiden mehr über Geld zu reden, als sie eigentlich wollen. Pflegefamilien, die Kinder mit Behinderungen aufnehmen, stecken oft viel Energie in Verhandlungen mit Krankenkassen und Ämtern. Da geht es beispielsweise um pflegerisch geschulte Nachtwachen, die bezahlt werden müssen oder um rollstuhlfähige Autos, die benötigt werden. So sei es oft "eine Frage des Glücks", wer in den jeweiligen Ämtern zuständig ist. Auch die Schindlers stemmen ihren Alltag nicht alleine. Sie werden von Mitarbeitern des Pflegedienstes MHP und des Freundeskreises Mensch unterstützt. An drei Tagen in der Woche besucht Jessy die Schule der KBF in Mössingen. »Wir genießen unser Leben sehr, so wie es ist«, sagt das Gomaringer Ehepaar. Ihren "ganz großen Sonnenschein" Jessy haben sie immer dabei. Als Einschränkung haben sie ihr Leben noch nie empfunden. Im Gegenteil. Ihre Kinder haben schon manche Tür geöffnet. Die Kontakte zu anderen sind oft intensiver. "Unsere Kinder sind angenommen. Das ist doch der Kerngedanke der Inklusion." (GEA)

 

BUNDESVERBAND BEHINDERTER PFLEGEKINDER

Deutscher Engagementpreis für die Arbeit des Verbandes

Im Bundesverband behinderter Pflegekinder (BbP) sind mehr als 550 Familien mit über 1 000 Pflegekindern organisiert. Gegründet wurde der Verband 1983 als Selbsthilfegruppe. Schnell entstand dabei auch eine Vermittlungshilfe zwischen Familien, die Pflegekinder mit besonderen Bedürfnissen aufnehmen wollen, und Jugendämtern und freien Trägern, die einen Pflegeplatz suchen.

Darüber hinaus bietet der Verband Pflegeeltern Hilfe bei speziellen Fragen an. Dafür sind eine ganze Reihe Mitglieder als Berater aktiv, die über die Jahre Spezialisten in verschiedenen Themenbereichen wurden. Auch Ursula Schindler ist darunter. Die Kinderkrankenschwester berät in Fragen der häuslichen Pflegedienste und Intensivmedizin, der Heimbeatmung und Palliativpflege.

Gerhard Schindler ist im Vorstand für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. In dieser Funktion nahm er an der Preisverleihung zum Deutschen Engagementpreis teil. Diese hohe Auszeichnung bekam der Verband Anfang Dezember in der Kategorie »Grenzen überwinden« in Berlin verliehen.

Die Vorstandsmitglieder sprachen dabei auch mit Familienministerin Franziska Giffey über die prekäre rechtliche Situation. (iwa)

www.bbpflegekinder.de