TÜBINGEN. Das Schaufenster des einstigen Bekleidungsgeschäfts »Hirsch« in der Kronenstraße 6 ist vergrößert, ansonsten hat sich am Gebäude nicht viel geändert. Vor dem Haus sind bereits sechs Stolpersteine verlegt. Nun befindet sich gegenüber eine Stele, die an die einstige Inhaberfamilie Hirsch und deren Nachfahre Fritz Bauer erinnert.
Bereits 16 solcher Stelen gibt es seit 2016 in Tübingen, wie Christopher Blum vom städtischen Fachbereich Kunst, Kultur und internationale Beziehungen berichtete. An ihnen lasse sich die Geschichte exemplarisch nachvollziehen. »Die Spuren sind bis heute sicht- und greifbar«, so Blum. Die von der Tübinger Geschichtswerkstatt initiierte 17. Stele sei eine sinnvolle Erweiterung.
Zur offiziellen Eröffnung war Carol Rovetti aus Südafrika nach Tübingen gekommen und verbrachte dort eine Woche. Wegen des Regens wurde das Projekt zunächst im Rathaus vorgestellt. Später gingen die 50 Teilnehmenden hinüber in die Kronenstraße.
Rovetti besuchte Bekannte, sprach mit Zeitzeugen und ging auf den Wankheimer Friedhof. »Das waren ernsthafte und berührende Momente«, sagte Rovetti. Die 1947 in Johannesburg geborene Frau ist Enkelin von Leopold Hirsch (1876–1966), dem letzten Inhaber des Bekleidungsgeschäftes »Hirsch« in der Kronenstraße 6 in Tübingen. 1938 wurde sein Geschäft zwangsverkauft, er floh mit seiner Frau Johanna zu den schon nach Südafrika emigrierten Kindern Walter Hirsch und Eleonore Hirsch. Carol Rovetti ist die Tochter von Walter Hirsch.
Erinnerungen und Schmerzen
In Tübingen übergab sie dem Stadtarchiv einen Stapel Familiendokumente zur Aufbewahrung und für die weitere Forschung. »Ich habe große Gastfreundschaft erlebt«, sagte Rovetti. Sie wolle auch ihre Kinder nach Tübingen bringen und ihnen das Haus ihrer Großeltern zeigen. »Dass Nachfahren ins Land der Täter zurückkehren, ist nicht selbstverständlich«, sagte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Das müsse mit vielen Erinnerungen, Erkenntnisse und auch Schmerzen verbunden sein.
Ulrike Baumgärtner stellte im Ratssaal zunächst Familie Hirsch vor – Textilhändler über drei Generationen. Das Haus Kronenstraße 6 war von 1859 bis 1938 Sitz des Textilgeschäftes Leopold Hirsch und Wohnhaus der Familie. Leopold Hirsch (1807–1875) gründete das Geschäft 1859. Er kam aus Wankheim und war dort als Landwirt und Händler zu Wohlstand gekommen. »Er war ein gemachter Mann und wollte mit dem Trödelhandel aufhören«, sagte Baumgärtner. Hirsch wollte nach Tübingen umziehen, dort ein Geschäft eröffnen und seinen Kindern den Besuch höherer Schulen ermöglichen. Juden hatten jedoch seit ihrer Vertreibung aus Tübingen 1477 dort kein Wohnrecht. Leopold Hirsch erkämpfte sich 1850 als erster Jude gegen den massiven Widerstand des Tübinger Gemeinderats das Bürgerrecht und damit das Recht, nach Tübingen umzusiedeln. 1859 kaufte er das Gebäude Kronenstraße 6, wohnte dort mit seiner Frau Therese (1813–1895) und den Kindern und übergab das Geschäft 1875 an Gustav, einen seiner Söhne.
Sohn Gustav Hirsch führte das Geschäft seit 1910
Gustav Hirsch (1848–1933) und seine Frau Emma (1853–1915) wohnten mit ihren sechs Kindern über dem Geschäft. Hirsch war in der Tübinger Stadtgesellschaft gut integriert, engagiertes Mitglied im Tübinger Bürgerverein und Synagogenvorsteher. Er starb 1933 in Tübingen. Von den sechs Kindern starben zwei schon in jungen Jahren, zwei wurden von den Nationalsozialisten ermordet: Paula (1897–1942, Riga) und Arthur (1886 –1938, Dachau). Zwei Kinder konnten aus Deutschland fliehen: Ella (1881–1955, Schweden) und Leopold (1876 –1966, Südafrika). Leopold Hirsch, der älteste Sohn von Gustav Hirsch, führte das Geschäft seit 1910. Nach 1933 kauften trotz offizieller Boykottmaßnahmen viele Kunden, vor allem aus der Unterstadt, weiterhin "beim Hirsch". "Die Wengerter beschafften sich über viele Jahre bei ihm Arbeitskleidung und konnten auch anschreiben.
Viele hielten ihm die Treue", so Baumgärtner. Doch die nationalsozialistische Stadtverwaltung und das Finanzamt schikanierten ihn mit Betriebsprüfungen und Steuernachforderungen. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde er für vier Wochen in das KZ Dachau verschleppt. Nach dem allgemeinen Verbot für jüdische Geschäftsleute, ihre Unternehmen weiterzuführen, musste er sein Geschäft an das NS-Mitglied Josef Tressel verkaufen. Mittellos flüchtete er 1939 mit seiner Frau Johanna zu seinen schon emigrierten Kindern Lore und Walter nach Südafrika. Dort starb Johanna 1942 und Leopold 1966. "Die Geschichte der Familie spiegelt die jüdische Geschichte in Deutschland", sagte Baumgärtner. Die erste Generation war erfolgreich und zog in die Stadt, die zweite sozial integriert und anerkannt, die dritte wurde von den Nazis vertrieben.
Unermüdlicher Aufklärer
Die zweite Seite der Stele erinnert an Fritz Bauer, der sich als Generalstaatsanwalt in Hessen von 1956 bis 1968 für die Verfolgung von NS-Verbrechen einsetzte. Martin Ulmer von der Geschichtswerkstatt Tübingen beschrieb ihn einen Zeitungsartikel zitierend als »unermüdlichen Aufklärer«. Bis zur Jahrtausendwende sei er fast vergessen gewesen, so Ulmer. Vor allem ein Kinofilm machte ihn wieder bekannter.
Fritz Bauer ist der Enkel von Gustav und Emma Hirsch. Seine Mutter, Ella Hirsch, wuchs in der Kronenstraße 6 auf und heiratete den Kaufmann Ludwig Bauer aus Stuttgart. Die Familie lebte in Stuttgart, wo Fritz Bauer und seine Schwester Margot geboren wurden. Fritz Bauer war als Kind oft in den Ferien bei seinen Großeltern in Tübingen. Er studierte Rechtswissenschaften, wurde jüngster Amtsrichter in Württemberg und war Mitglied der SPD. 1933 wurde er entlassen und floh nach Dänemark und Schweden. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. Von 1956 bis 1968 war er Generalstaatsanwalt in Hessen und in dieser Funktion – gegen große Widerstände – der wichtigste Initiator der Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Die Prozesse bewirkten, dass sich erstmals nach dem Krieg eine breite Öffentlichkeit mit der Shoa auseinandersetzte. Fritz Bauer setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch für eine Humanisierung der Rechtsprechung und die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ein, die noch vielfach von der NS-Vergangenheit geprägt waren. (GEA)