TÜBINGEN. »Ich habe hier viele Male gestanden. Heute bin ich wirklich nervös«, gestand Udo Rauch. Er müsse sich davon abhalten, zu viel zu erzählen. Er sei Fan von Anekdoten geworden, den kleinen Geschichtchen, aus denen Geschichte wird. Er sei sich bewusst darüber, was er hinterlassen habe: »Es bleibt, was der Archivar hineinschreibt.« Es habe ihn stets geschmeichelt, wenn man ihm bescheinigte, dass er, am besten wisse, wie die Stadt Tübingen tickt.
Rauch wechselte nach zwei Jahren als Archivar in Herrenberg nach Tübingen. Dort hat ihm die Stadt als Arbeitgeber in den gesamten 40 Jahren seiner Dienstzeit viele Freiräume ermöglicht. Das sei nicht selbstverständlich, sagte Rauch. Unterstützung habe er unter anderem bei einem sehr persönlichen Projekt, der landesweit beachteten Ausstellung über queere Geschichte gefunden. Ein Highlight sei die gemeinsame Reise mit der damaligen Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch in die Berliner Landesvertretung gewesen, wo die Ausstellung auch gezeigt wurde.
Boris Palmer ernennt Rauch zum Stadtarchiv-Ehrenrat
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (»Ich bin ein Fan von Ihnen!«) ernannte Udo Rauch zum Stadtarchiv-Ehrenrat: »Es wird Momente geben, wo Sie etwas erforschen wollen. Rathaus und Archiv werden für Sie offen bleiben!« Palmer lernte Rauch bereits als Geschichts-Student kennen. Dieser habe ihm den Weg ins Rathaus eröffnet: Während seiner Arbeit über Tübingen im Kaiserreich sei er damals täglich bei Udo Rauch vorbei gekommen.
Rauch erinnerte sich, dass Palmer damals noch keinen Laptop hatte. Der spätere Oberbürgermeister bat darum, den Computer des Archivs benutzen zu dürfe. »Herr Palmer, der Datenschutz …«, hatte der Stadtarchivar geantwortet, anschließend das Netzwerkkabel rausgezogen und Palmer Platz nehmen lassen.
Kenner der Fachgeschichte
»Im Laufe der Zeit wird man bestimmt zu einem belesenen alten Mann.« Dieses Udo-Rauch-Zitat aus einem Interview zu dessen Dienstantritt 1984 nahmen Kulturamtschefin Dagmar Waizenegger und ihre Mitarbeiter und druckten es auf ein Banner, das den Hintergrund des Ratssaals schmückte. Auf den Tischen davor stapelten sich die Geschenke an den scheidenden Stadtarchivar.
Der gebürtige Oberjettinger sei bester Kenner der Archivbestände und Fachgeschichte, sagte Dagmar Waizenegger, die mit ihren Emotionen rang. Für sie und ihre Mitarbeiter ist es ein schmerzlicher Abschied. Waizenegger wollte nicht, dass Udo Rauch einfach still und leise die Tür hinter sich zuzieht. »Wir werden die freundliche kollegiale Zusammenarbeit sehr vermissen.«
Abschied ohne Lobreden
Rauch hatte sich eine Verabschiedung im Rathaus gewünscht, wo er auch seinen Arbeitsplatz hatte. Und er bestand darauf, dass Absolventen der Tübinger Musikschule auftreten sollten. Dies war das Duo Justus Haverkamp (Violoncello) und Serge Anoumou (Klavier). Auf weiteren Wunsch von ihm (»keine Lobreden!«) hielt Reinhard Johler, Leiter des Ludwig-Uhland Instituts für empirische Kulturwissenschaften, einen Vortrag über das Archivwesen und den Archivar an sich. Johler schätzte Rauch als »radfahrenden Stadtarchivar, als öffentliche Figur«, der die Archive als Orte der originären Wissensproduktion der Gegenwart begreife.
Vom Tübinger Vertrag zur Schwarzwälder Kirschtorte
Ein Archivar müsse sensibel auf urbane Veränderungen reagieren. Stadtgesellschaften, so Johler, bräuchten Bürgerbeteiligung, Institutionen und Archive – »die Quellen und den öffentlichen Zugang dazu.« Rauch förderte im Lauf der Zeit einiges zu Tage: Den Tübinger Vertrag von 1514, das erste Dokument schriftlich festgehaltener Menschenrechte in der Stadt, das unter anderem ordentliche Gerichtsverfahren garantierte. Oder den Nachweis, dass die Platanenallee nicht von Scharfrichter Georg Friedrich Belthle angelegt worden sein konnte – Rauch fand die Rechnung für die Platanen, ausgestellt vier Jahre nach Belthles Tod.
Auf der Suche nach der zum Tübinger Vertrag verliehenen »Pfalzgrafenfahne«, untersuchte er alte Fotos und dann den Fahnenschrank des Archivs. Dort entdeckte er eine Fahne, die Untersuchungen zufolge gar aus dem 12. Jahrhundert stammte. Schließlich stand Rauch vor einem Rätsel aus dem 20. Jahrhundert: Wer hat die Schwarzwälder Kirschtorte erfunden? 2007 stellte der Archivar fest, es könnte der Tübinger Konditor Erwin Hildenbrand gewesen sein. Diesem Rätsel will Rauch in seinem Ruhestand weiter nachgehen. (GEA)