TÜBINGEN. Seit fast drei Jahrzehnten drängen Betriebe, Pendler und Bewohner der Tübinger Südstadt auf den vierspurigen Ausbau der B 27. Gemeinderäte und Kreisräte haben einstimmige Beschlüsse gefasst. Ausnahmslos alle Abgeordneten aus dem Wahlkreis – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – haben sich für den Tunnel starkgemacht. Und auch Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sieht keine Alternative.
»Die Region steht hinter der Trasse«, sagt Klaus Tappeser. Dem Regierungspräsidenten ist nicht verborgen geblieben, dass Fridays for Future und der Jugendgemeinderat sich jüngst gegen den Tunnel ausgesprochen haben und das Projekt am liebsten stoppen würden. Doch im Tübinger Gemeinderat gab’s zwar Verständnis für das Klimaschutz-Anliegen, aber weiter eine klare Mehrheit für den Tunnel.
Mehr als 25.000 Unternehmen mit rund 125.000 Beschäftigten sind nach Berechnungen der Industrie- und Handelskammer im Einzugsgebiet der B 27 tätig. »Der Ausbau ist gut für die Orte entlang der Straße, die vom Verkehr entlastet werden, gut für die Betriebe, die ihre Waren schneller ans Ziel bringen, und gut für die Pendler.« Tübingen ist gegenwärtig noch ein Nadelöhr. Der Verkehr läuft vierspurig auf die Unistadt zu – ab da geht’s zweispurig durch die Südstadt.
Zwei Trassen abgelehnt
Schon 1962 gab’s erste Überlegungen, das zu ändern. Doch erst mehr als 30 Jahre später wurde die Sache konkret. Die ersten Vorschläge stießen auf Protest: Einfach die bisherige Straße ausbauen (»Göglertrasse«)? Oder auf offener Strecke über den Berg und durch den Wald? Beides rief viele Gegner auf den Plan. Seit 2002 plant man den Tunnel.
Warum das so lange dauert? Weil der Aufwand unglaublich hoch ist, sagen die Mitarbeiter im Regierungspräsidium. Und vieles deutlich komplizierter ist, als Laien oft wahrhaben wollen. Tappeser hat Beispiele dafür parat. Bisher galt: Das Abwasser wird entlang der Straßen aufgefangen und in die dafür vorgesehenen Absetzbecken weitergeleitet. Nun sollen Straßenbauer umdenken: Oberflächenwasser will man künftig versickern lassen wie sonst in Baugebieten auch.
Gilt das schon für die aktuelle Planung? Tappeser hat angeordnet, auf Nummer sicher zu gehen. »Es ist noch nicht eindeutig geregelt. Deswegen planen wir beide Systeme.« Doppelte Arbeit also. Anspruchsvoll dazu, weil jeder kleine Höhenunterschied zu berücksichtigen ist. Geklärt werden muss, wie viel Gelände man dafür braucht und was dementsprechend zusätzlich beim Grunderwerb bedacht werden muss. Aber man ist dann auf beide Fälle eingerichtet.
Immer wichtiger: Klimaschutz
Ganz neu heißt es: »Wir brauchen auch eine Fachplanung Klima«. Dass Umweltbelange und CO2-Mengen eine immer größere Rolle spielen, kommt nicht völlig unerwartet. Bloß: Was genau wird da verlangt? Was wird wie berechnet? Kollegen aus anderen Behörden haben Referatsleiter Michael Kittelberger schon versichert, dass sie sehr gespannt sind, wie die Tübinger das vorexerzieren.
Immerhin gibt’s seit Kurzem »Hinweise zur Berücksichtigung der großräumigen Klimawirkungen in der Vorhabenzulassung« aus Berlin. Und die nehmen sich Kittelberger und Kollegen sorgfältig vor, um die Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit zu bewältigen.
Morgens Stau, abends Stau: Bisher rollt der Verkehr auf zwei Spuren durch die Tübinger Südstadt (blaue Linie). Der Tunnel (rot gestrichelt) soll mehr als 36.000 Fahrzeuge täglich aufnehmen, die Belastung für die südlichen Stadtviertel verringern und die Fahrzeiten für Pendler deutlich verkürzen. ENTWURF: REGIERUNGSPRÄSIDIUM
Ebenfalls neu im Aufgaben-Katalog: Fotovoltaik. Wie bei den Auf- und Abfahrten weiter nord-östlich, den »Lustnauer Ohren«, will man auf den Grasflächen an den Knoten vor dem Tunnel Sonnen-Kollektoren aufstellen. Für Lüftung und Licht, Alarm- und Überwachungsanlage braucht man Strom. Zum ersten Mal soll ein Tunnel energie-autark werden.
»Wir sind auch Anwalt der Straßennutzer«, sagt Tappeser zur Bedeutung der Verbindung. Mehr als 50.000 Menschen kommen Tag für Tag hier durch. Viele unterwegs von Rottweil und Balingen nach Stuttgart und umgekehrt. Die Planer sehen die Abschnitte nie als isolierte Strecke, sondern als Teil eines Netzes.
Mikro-Simulationen
Und auch Mikro-Simulationen gehören dazu. Anhand eines Modells wird derzeit zum Beispiel berechnet, was geschieht, wenn der Tunnel zur Kontrolle oder Sanierung geschlossen werden muss. Schließlich will man wissen, wie sich der Verkehr aufs umliegende Netz verteilt.
Gutachten und Berechnungen müssen im Verfahren immer wieder auf neuen Stand gebracht werden. Ein Umwelt-Gutachten darf nicht älter als fünf Jahre sein. Die Verkehrs-Untersuchung muss die aktuellen Erkenntnisse widerspiegeln.
Gegner von Vorhaben verfolgen dies nicht selten mit Argwohn, hat man im Regierungspräsidium festgestellt. Die Einen sagen: »Das haben sie doch schon gemacht? Wieso jetzt noch mal?« Andere vermuten, es werde jetzt erst richtig geprüft, alles davor seien sowieso nur grobe und fehlerhafte Annahmen gewesen. Die Behörde weist jeden derartigen Verdacht zurück. Vor Einleitung des eigentlichen Planfeststellungs-Verfahrens gehen die Unterlagen mehrmals an die Ministerien in Stuttgart und Bonn und müssen dort überprüft werden. Erst wenn sie mit dem entsprechenden Vermerk bestätigt sind, kann der jeweils nächste Schritt erfolgen.
Ganz am Ende besteht dennoch ein Prozess-Risiko. Wird der Planfeststellungs-Beschluss angefochten, haben die Verwaltungsrichter das letzte Wort. Auch das kann ein Bauvorhaben über Jahre verzögern.
DAS PROJEKT IN ZAHLEN
Länge gesamt: 3,5 Kilometer Tunnel: 2,3 Kilometer Anschlüsse: Bläsibad und Tübinger Kreuz Verkehrsprognose für 2035 (Fahrzeuge in 24 Stunden): 55.800 Fahrzeuge auf der B 27 bei der Anschlussstelle Bläsibad, 36.500 Fahrzeuge im Schindhau-Basistunnel, 56.300 Fahrzeuge auf der B 27 beim Tübinger Kreuz. Baukosten: 338,3 Millionen Euro
Einen großen Zeitverlust hat den Tübingern der Bundesrechnungshof beschert. Im Herbst 2005 befanden die Prüfer: Zu teuer, das geht auch anders – wenn man die offene Trasse optimiert, kann man auf einen Tunnel verzichten. »Das hat fünf Jahre gekostet«, heißt es im Regierungspräsidium. Während andere Varianten untersucht wurden, ruhte die Tunnel-Planung. Erst Mitte 2011 war klar, dass das Bundesministerium doch die Röhren durch den Berg favorisiert.
Bald danach folgte eine weitere Unterbrechung – aber eine produktive. Die Behörde diskutierte die Knotenpunkte und Anschlüsse vor dem Tunnel mit den Bürgern, nahm Vorschläge auf und überprüfte sie. Da gab’s kein »Das geht doch nicht« und »Das haben wir noch nie so gemacht«. Stattdessen nahm man Anregungen auf und änderte die eigenen Entwürfe.
Kreativität schlägt Fachwissen?
Neun Monate nahm man sich 2012 und 2013 Zeit für den Bürgerdialog. Dass die Grünen im Tübinger Gemeinderat danach laut tönten, die Beteiligung der Bürger habe eine »Monsterplanung« verhindert, werden die Fachleute in der Verwaltung nicht so gern gehört haben. Auch das Urteil von OB Boris Palmer (»Die Kreativität der Bürger hat über alles Fachwissen gesiegt«) empfanden nicht alle als schmeichelhaft. Aber dass man für die Ein- und Ausfahrten eine »schöne, schlichte und elegante Lösung« gefunden hat, entsprach auch dem Eindruck der Mitarbeiter in der Behörde.
Planungsteams verstärkt
Damit in der jetzigen Phase kein weiterer Zeitverlust auftritt, hat Tappeser die Planungsteams verstärkt – sowohl für die Endelbergtrasse zwischen Nehren und Bodelshausen, wo das Verfahren schon deutlich weiter gediehen ist, als auch für den Tunnel. Die geologischen Untersuchungen mit 200 Bohrungen zwischen Bläsibad und dem Kreuz mit der B 28 sind abgeschlossen und brachten keine Überraschungen, sagt Kittelberger. Doch die Liste dessen, was nun überarbeitet oder neu erstellt werden muss, ist lang: Gutachten und Berichte über Lärmschutz, Luftschadstoffe, Artenschutz, landschaftspflegerische Begleitmaßnahmen, Wasserrahmenrichtlinie, die Umweltverträglichkeitsprüfung und einiges mehr. Manches wird an Fachgutachter vergeben, anderes wird im Haus erledigt.
Die zwei Jahrzehnte währende Vor-, Entwurfs- und Genehmigungsplanung ist dann beendet. 2004 geht’s ins eigentliche Planfeststellungsverfahren. Auf ein genaues Datum dafür legt sich der Regierungspräsident nicht fest. »Nach mehr als 60 Jahren kommt’s auf zwei Monate nicht an«, sagt Tappeser und wirkt dabei ganz zufrieden. (GEA)