KUSTERDINGEN/REUTLINGEN. »Ich bin lieber auf der Baustelle als in der Schule«, gesteht Lorin Altenburger. Der 19-Jährige gehört zu den Pionieren, die das Gymnasium mit einer Ausbildung im Handwerk kombiniert haben. Zehn Neuntklässler des Kusterdinger Firstwaldgymnasiums, darunter drei Mädchen, waren 2016 die ersten, die sich zu dem Modellprojekt »Abitur und Lehre« angemeldet haben. Neben Lorin haben Janina Jäger und Yara Hirsch bis zur Gesellenprüfung durchgehalten. Und die Entscheidung für die Doppelbelastung nie bereut: Nun haben sie sowohl das Abitur als auch den Gesellenbrief in der Tasche, während ihre Altersgenossen entweder nur das eine oder das andere haben.
In Kooperation mit der Reutlinger Unternehmensgruppe Heinrich Schmid (HS) haben die Gymnasiasten parallel zur Schulausbildung eine Lehre zum Bauten- und Objektbeschichter absolviert. Die zweijährige Lehrzeit wird im achtjährigen Gymnasium auf die vier Schuljahre von der neunten Klasse an verteilt. Unternehmenschef Carl-Heiner Schmid will mit dem Projekt eine Balance zwischen Fähigkeiten und Fertigkeiten schaffen.
Impulse aus zwei Welten
Schmid selbst stammt aus einer Handwerkerfamilie, stand schon im Alter von neun Jahren das erste Mal auf der Baustelle. Um dort für 40 Pfennig die Stunde sauber zu machen und sich ein Fahrrad für 240 D-Mark zu finanzieren. Frühe körperliche Arbeit und Lebensnähe tragen zum Selbstbewusstsein bei, ist der heute 79-Jährige überzeugt. Entgegen den Wunsch seines Vaters hat er nach der Volksschule das Gymnasium besucht und ein Studium zum Diplom-Kaufmann absolviert. "Ich fühle mich in beiden Welten wohl", sagt er: in der akademischen und in der des Handwerks. Ich hatte die Chance, aus beiden Impulse mitzunehmen."
Alternativ zu seinem Beruf hätte sich Schmid als ausgebildeter Skilehrer auch die Einrichtung einer Skischule in Amerika vorstellen können. Oder die plastische Chirurgie. Vor allem Letztere hätte auch seinem Credo von der Kombination von Kopf und Hand entsprochen, die den Menschen in der Arbeitswelt ganzheitlich fordert und die er mit seinem Modellprojekt Abitur und Lehre umgesetzt hat.
Einer der Unterschiede seines Projekts zu anderen dualen Schulen: Seine Lehrlinge werden von Anfang an in die reale Arbeitswelt einbezogen, sie produzieren nicht für den Papierkorb, sondern für Kunden seiner Firma.
Er habe zwischendurch kurz überlegt aufzuhören, gesteht Lorin. Wegen der Schule. »Ich habe mir selbst Stress gemacht. Aber dann beschlossen, es durchzuziehen.« Vor allem im vergangenen halben Jahr habe er es genossen, dass man ihn allein auf die Baustelle geschickt hat. Selbstständig zu arbeiten, zu planen, zu organisieren und mitzudenken – das gefällt ihm.
Die theoretische Handwerksprüfung haben die Kusterdinger mit Bravour absolviert, alle Drei haben Noten mit einer Eins vor dem Komma. Für die praktische Prüfung mussten sie Wände und Türen eines Notariats in einem Altbau gestalten. Die Ergebnisse dafür stehen noch aus. Ausbilderin Regina Barth ist aber zuversichtlich, dass ihre Schützlinge auch in diesem Teil gut abschneiden.
Der Unterschied zu regulären Lehrlingen bestand vor allem im Alter, sagt Barth. Mit 13 beziehungsweise 14 waren die Neuntklässler aus Kusterdingen zu Beginn ihrer Ausbildung deutlich jünger als ihre Mitstreiter. Sie durften auch nicht so lange arbeiten, es galten eigene Arbeitsschutzauflagen. Heute ist Barth stolz auf die drei. »Sie haben vom ersten bis zum letzten Tag der Ausbildung vollen Einsatz gezeigt.«
Den Einblick ins Arbeitsleben, die Selbstständigkeit und die Gelegenheit, sich den Respekt der Kollegen zu verdienen, haben die Gymnasiasten besonders geschätzt. »In der Schule wird einem vieles abgenommen«, sagt Yara. »Man wird mehr behütet«, ergänzt Janina. In der Arbeitswelt muss man sich um vieles selbst kümmern und für sich selbst einstehen. Der Umgang auf dem Bau sei direkter, realer. Bei der körperlichen Arbeit habe es keine Unterscheidung zwischen Mädchen und Jungen gegeben, betonen sie. »Bei schwerem Material läuft man halt einmal mehr«, stellt Yara klar.
Einig sind sich die Gymnasiasten über das gute Gefühl, nach der Arbeit zu sehen, dass man etwas gemacht hat. Den Vorher-Nachher-Effekt. In den Ferien früh aufzustehen, sei dagegen nicht so toll gewesen. Sie haben aber nie aufhören wollen, versichern die jungen Frauen. Sie haben gelernt, die Arbeitszeit für die Schule in geregelten Abläufen produktiver zu gestalten. Und die kürzeren Ferien dafür umso mehr zu genießen.
Work-and-Travel in Australien
Zur Abiturvorbereitung im vergangenen Jahr wurden die Gymnasiasten ein halbes Jahr von der Ausbildung freigestellt, um im Sommer die Abiturprüfung zu machen. Janina hat die Schule mit der Note 1,8 beendet, Yara erreichte einen Schnitt von 2,5. »Ich hätte auch keine bessere Note gehabt, wenn ich die Ausbildung nicht gemacht hätte«, sagt Yara. Lorin ist mit seinem Schnitt von 3,0 auch zufrieden.
Wie es jetzt weitergeht? Die beiden jungen Frauen wollen erst einmal ein halbes Jahr weiter bei Heinrich Schmid arbeiten. Und dann an dem ganz neuen Work-and-Travel-Projekt des Unternehmens in Australien teilnehmen. Anschließend könnten sie sich ein Studium in Architektur oder zu Bauingenieurinnen vorstellen. Lorin wollte eigentlich auf Weltreise gehen, bevor Corona seine Pläne durchkreuzt hat. Er will deshalb jetzt schon ein Eventmanagement-Studium beginnen und zwischendurch seine Reise nachholen. Bis zum Sommersemester hat aber auch er vor zu jobben. Und gute Aussichten mit seinem Gesellenbrief. (GEA)
DUALES GYMNASIUM
Die Praxiszeit der Ausbildung findet auf Baustellen und in den Lehrwerkstätten des Reutlinger Unternehmens Heinrich Schmid (HS) statt, der Fachunterricht am Firstwaldgymnasium. Die Ausbildung umfasst acht Qualifikationsbausteine, die durch den Zentralverband des Deutschen Handwerks genormt und festgelegt sind. Nach dem Abitur findet die staatlich anerkannte Berufsabschlussprüfung vor der Handwerkskammer Reutlingen statt. (GEA)