GEA: In Deutschland ist die Aufnahme eines Fremden in die Familie eher selten. Wie kamen Sie dazu, einen jungen Flüchtling privat aufzunehmen?
Frank: Vor über einem Jahr hatte ich ein Gespräch mit einem Kollegen aus Berlin über die Situation in Syrien und er hatte gerade einen jungen Flüchtling bei sich in der Familie aufgenommen. Etwa ein halbes Jahr später rief er mich an, ob ich in Stuttgart oder Umgebung jemanden kenne, der dem älteren Bruder seines »Schützlings« weiterhelfen könnte bei der Suche nach einer Schule beziehungsweise Ausbildung. Dieser bereits volljährige junge Mann war ziemlich abgelegen in Mulfingen bei Künzelsau untergebracht und hatte dort wenig Aussicht auf Ausbildung und Arbeit. Da ich niemanden kannte, der in Frage kam, luden wir Majd zu uns nach Hause ein. Nach kurzem Kennenlernen war uns klar, dass wir auch den nächsten Schritt mit Majd gehen werden, er war uns auf Anhieb sympathisch. Auch meine Frau und unsere 17-jährigen Söhne konnten sich gut vorstellen, dass Majd bei uns einzieht.
Maria: Wir hatten ein gutes Bauchgefühl und haben nach dem Kennenlernen überlegt, wann der richtige Zeitpunkt für den Umzug ist. Die Sommerferien standen vor der Tür und für Majd drängte die Zeit, wenn er noch einen Schulplatz in Reutlingen bekommen wollte. Es war gar nicht viel Zeit, lange nachzudenken. Wir erledigten die ersten Behördengänge vor unserem Urlaub und danach sollten wir dann zu fünft im Haus sein.
»Ich hatte vier Jahre nicht mehr in einer Familie gelebt«Majd, wie war diese Entscheidung für Dich? Was hast Du gedacht?
Majd: Ich dachte natürlich auch, was machen wir da? Wir kennen uns gerade mal einen Tag! Was mache ich, wenn es mir nicht gefällt? Wir haben dann einfach entschieden, es einmal auszuprobieren. In Mulfingen ging es für mich nicht weiter, aber ich wollte unbedingt einen Schritt machen, zur Schule gehen. Wir haben dann viel über meine Perspektiven gesprochen und Frank und Maria haben mit mir gemeinsam überlegt, wie es in meinem Leben weitergehen kann. Sie konnten mir viele Informationen geben.
Und wie ging es Dir dann nach dem ersten Tag in der Familie?
Majd: Es war alles sehr ungewohnt. Ich hatte vier Jahre nicht mehr in einer Familie gelebt. Ich wollte Rücksicht nehmen, bin immer ganz leise die Treppe runtergegangen, um niemanden zu stören. Ich wollte mich an den Rhythmus der Familie anpassen. Es gab plötzlich wieder gemeinsame Essenszeiten. Daran musste ich mich erst gewöhnen.
Und was hat sich für Sie im Alltag verändert, seit Majd bei Ihnen lebt?
Maria: Ich würde sagen, das Leben ist bunter geworden, der Alltag ist abwechslungsreicher. Unsere Söhne sind in einem Alter, in dem sie lieber ohne Eltern unterwegs sind. Majd dagegen findet es spannend, Neues mit uns zu erleben. Er ist neugierig auf das Leben hier in Deutschland und will möglichst viel kennenlernen und verstehen. Dadurch sehen wir vieles auch wieder mit anderen Augen. Ausflüge, Verwandtenbesuche, alles ist wieder ein bisschen interessanter geworden. Natürlich gibt es eine Person mehr im Haushalt – mit allem, was dazu gehört. Im Bad hat jeder jetzt morgens ein engeres Zeitfenster zum Beispiel. Und wir essen gesünder. Weil wir jetzt überwiegend auf Schweinefleisch verzichten. Beim Kochen auf Speck zu verzichten, ist die größte Umstellung! (lacht)
Majd, wie sieht Dein Alltag jetzt aus? Konntest Du tatsächlich die erhofften Schritte gehen?
Majd: Ich habe gleich nach den Ferien mit dem BEJ (Berufseinstiegsjahr) an der Kerschensteinerschule begonnen. Dadurch verbessert sich mein Deutsch auch weiterhin und ich lerne viel Neues. Als Nächstes habe ich mir hier in Pliezhausen einen Minijob gesucht und tatsächlich schnell einen gefunden. Das habe ich alleine geschafft. Ich bin einfach ins Industriegebiet zu den Firmen hingegangen und habe nach einem Job gefragt. Gleich bei der zweiten Firma hatte ich Glück! Im November habe ich ein zweiwöchiges Praktikum bei Bosch in Reutlingen gemacht. In meiner Freizeit trainiere ich im Fitnessstudio und mein nächstes Ziel ist der Führerschein.
»Hier sitzen die Leute genauso zusammen wie bei uns in Damaskus«Da hat sich eine Menge getan in den letzten drei Monaten. Was hat dir konkret geholfen?
Majd: Meine Gastfamilie unterstützt mich hauptsächlich mit ihrem Wissen über das Leben und die schulischen und beruflichen Möglichkeiten hier in Deutschland. Ich erledige vieles selbst, fühle mich aber einfach besser informiert. Das gibt mir Sicherheit, ich kann immer wieder nachfragen, wenn ich nicht weiterkomme.
Gibt es große Unterschiede im Familienleben in Syrien und in Deutschland? Was ist dir aufgefallen?
Majd: Vieles ist gleich, Maria macht oft die gleichen Sachen wie meine Mutter im Haus. Die Familie isst zusammen, man geht gemeinsam spazieren und so weiter. Die Familien bei uns sind meistens größer. Anfangs dachte ich, man kennt in Deutschland seine Nachbarn nicht. Aber hier in Pliezhausen sitzen die Leute genauso zusammen wie bei uns in Damaskus früher.
Gibt es ein besonderes gemeinsames Erlebnis bisher? Etwas, was euch in Erinnerung bleibt?
Frank: Ich denke nicht, dass es DAS große Erlebnis gibt. Es sind eher die vielen kleineren Erlebnisse, die in Erinnerung bleiben: der erste Einkauf mit Majd im Edeka, der hilfsbereite Rektor der Kerschensteinerschule, gemeinsam gefeierte Geburtstage und solche Dinge.
Maria: Diesen Adventskranz hier auf dem Tisch hat Majd allein gebunden und dekoriert. Heute Morgen hat er die Kerze angezündet und wollte dann gleich alle anzünden. Mit einem Aufschrei konnte ich ihn gerade noch stoppen. Wir hatten gar nicht daran gedacht ihm zu erklären, dass man am 1. Advent nur eine Kerze anzündet. Mit meiner Reaktion habe ich ihn etwas erschreckt.
Majd: Ja, das wird mir sicher in Erinnerung bleiben!
Maria, Frank und Majd, vielen Dank für das Gespräch. (ZmS)
Kjell Johann, HAP- Grieshaber- Gymnasium am BZN Reutlingen-Rommelsbach, Klasse 9b