Deshalb befragte ich den zuständigen Betreuer, der genau diese jungen Menschen bei sich zu Hause aufnimmt. Aus beruflichen und privaten Gründen möchte er allerdings lieber anonym bleiben und seinen Namen deshalb nicht in der Zeitung lesen.
ZmS-Reporterin Maya Glück: Wie kommen eigentlich diese Kinder und Jugendlichen zu Dir? Oder am besten wäre, du erzählst mir einfach etwas über deinen Beruf.
Betreuer: "Viele Kinder und Jugendliche haben starke Probleme zu Hause - mit Eltern, Stiefeltern oder Geschwistern zum Beispiel, mit der Schule oder dem sozialen Umfeld. Sie haben die Möglichkeit, sich Hilfe vom Jugendamt zu holen, dieses wiederum sucht eine Lösung oder einen geeigneten Platz für die Hilfesuchenden. Nur selten werden Auffälligkeiten bei Kindern rechtzeitig bemerkt. Meist sind es 14- bis 17-Jährige, die erst mit Beginn der Pubertät so stark auffallen, dass man handeln kann.
Erste Anzeichen sind oft Drogen-, Alkoholkonsum, aggressives Verhalten oder häufiges Fehlen an der Schule. Manche Jugendliche leben sogar eine Zeit lang auf der Straße, ohne dass es jemand bemerkt. Für manche Kinder und Jugendliche ist es nicht sehr sinnvoll, in Wohngruppen oder Heimen zu leben. Deshalb suchen manche Jugendhilfeeinrichtungen Familien, die diese Kids in ihren Haushalt aufnehmen.
Es wird versucht, einen »normalen« Alltag zu leben, mit einem ganz gewöhnlichen sozialen Umfeld. In Heimen und Einrichtungen sind oft viele Gleichgesinnte eng aufeinander, was nicht für jeden wirklich gut ist.
Die Betreuer sind in der Regel pädagogisch ausgebildete Kräfte, die Beruf und Privatleben gern eng miteinander verbinden. Diese Betreuungsform kann zu Hause bei einer Familie, im Ausland, beispielsweise über ein Reiseprojekt, auf dem Schiff oder in verschiedenen Arbeitsprojekten stattfinden.
Dies nennt man also "individuelle Jugendhilfe". Man hat bei dieser Form die Möglichkeit, intensiver zu betreuen, zu beschulen - zum Beispiel auch über eine Fern- oder eine Internetschule - und individuelle Praktika und Beschäftigungen anzubieten. Das Ziel ist zunächst, dass die Kinder und Jugendlichen "ankommen" und einen Platz finden, an dem sie sich auf etwas einlassen können. Längerfristige Ziele sind zum Beispiel ein Schulabschluss, eine Berufsausbildung und die Verselbstständigung der Kids."
ZmS-Reporterin Maya Glück: Ich bedanke mich für die aufschlussreiche Information.
Zwei Betroffene berichten
Natürlich habe ich auch die betroffenen Jugendlichen selbst zu diesem Thema interviewt. Vincent L. wird mit zwei Jahren vom Jugendamt den Eltern weggenommen und ins Kinderheim gebracht, nachdem er einige Misshandlungen vom Stiefvater »überlebt«. Er hält sich in verschiedensten Einrichtungen auf, doch erfolglos. Er haut ab zu seiner drogenabhängigen Schwester, der man selbst schon ihr Kleinkind entzog. Vincent bittet das Jugendamt erst um Hilfe, als er obdachlos wird. Mit 15 kommt er in eine Individualmaßnahme.Vincent: »Obwohl ich innerhalb meiner Maßnahme heftige Auseinandersetzungen mit meinem Betreuer hatte, trotzdem noch Drogen konsumierte und heimlich verkaufte, führe ich heute ein selbstbestimmtes Leben, lebe mit meiner Freundin in meiner Wohnung und bin schon seit einiger Zeit fest angestellt. Ich finanziere mich also komplett selbst ohne staatliche Zuschüsse. Ich habe den Hauptschulabschluss gemacht, eine Ausbildung als Metzger begonnen und wieder abgebrochen. Trotzdem hatte ich noch Glück und habe eine Festanstellung, die mir Spaß macht. Die Maßnahme hat mir sehr große Chancen geboten.«
Oliver K. kam schon mit acht Jahren in eine individuelle Betreuung. Auch er hatte sehr harte Kindheitsjahre hinter sich, die ihn bis heute - nicht unbedingt positiv - prägen.
Oliver: »Bis auf meinen Betreuer, dessen Familie und meinen Chef habe ich niemanden auf dieser Welt. Natürlich habe ich inzwischen auch einen Freundeskreis hier gefunden. Ich kann von mir behaupten, dass ich gut erzogen bin. Dies bekomme ich zumindest immer wieder zu hören. Ich habe den Realschulabschluss, mache gerade eine Ausbildung als Schreiner und bin seit einer Woche stolzer Besitzer eines Führerscheines. Ich habe einen eigenen Haushalt, einmal in der Woche kommt noch meine Betreuerin und schaut nach dem rechten. Mit meiner Vergangenheit habe ich in schlechten Momenten immer noch zu kämpfen und falle in eine recht depressive Phase. Dies ist auch für meine nahen Mitmenschen nicht immer einfach, da muss ich noch dran arbeiten. Trotzdem bin ich jetzt dankbar, dass ich so viele tolle Menschen habe, die sich immer wieder für mich einsetzen.«
Alles in allem ist die individuelle Jugendhilfe eine gute Sache, da sie den Jugendlichen die Möglichkeit bietet, sich im »normalen« Leben zurechtzufinden. Sie können sich selbst einen Freundeskreis aufbauen, ohne ausschließlich auf solche angewiesen zu sein, die ein ganz ähnliches Schicksal haben. Deshalb ist es wichtig, dass unsere Gesellschaft versucht, auch mit etwas »schwierigeren« Kindern umzugehen.
Viele Eltern haben einfach Angst, dass ihre eigenen Kinder das »nicht erwünschte Verhalten« abschauen und nachahmen. Verständlich, aber heutzutage kaum zu umgehen. Ich würde mit meinen eigenen Kindern lieber über die Problematik reden und sie aufklären, warum manche anders reagieren als alle anderen. (ZmS)
Maya Glück, Hohensteinschule, Klasse 8