Ein lebenslustiger Zeitgenosse
Vorerst nun aber einige Informationen zu Michi. Laut Aussage seiner Mutter war Michi eine Frühgeburt. Aufgrund so genanter »Grand mal«-Anfälle wurde nach vier Lebensmonaten Epilepsie festgestellt. Die vielen Anfälle schädigten sein sich noch in der Entwicklung befindendes Gehirn so sehr, dass zusätzlich zur Epilepsie auch noch eine geistige Behinderung entstand. Er ist daher auf dem Entwicklungsstand eines Fünfjährigen.
Michi ist neununddreißig Jahre alt und ein recht lebenslustiger Zeitgenosse. Seit ungefähr drei Jahren wohnt er in einer schön eingerichteten Wohngemeinschaft, mit anderen Behinderten zusammen im »Heim am Gustav-Werner-Platz«.
Unter der Woche arbeitet er in einer Behindertenwerkstatt, wo er einfache Maschinen bedienen darf. Er verdient sich dabei ein kleines Taschengeld, welches er jedem Interessenten stolz präsentiert. Das Wochenende verbringt er zuhause bei seinen Eltern.
Nun aber zum eigentlichen Projekt: Da ich rechtlich nicht in der Lage bin, allein mit einem Behinderten unterwegs zu sein, erklärte sich mein Opa bereit, Michi und mich auf unserem Ausflug in die Stadt zu begleiten. Ich hatte mir vorgenommen, zu versuchen, alles, was wir erleben und beobachten, mit seinen Augen zu sehen.
Wir holten Michi also am Freitag, 17. November, gegen 15 Uhr von Zuhause ab. Er war sichtlich erfreut und sagte: »Also, wohin wir gehen, weiß ich nicht. Weißt du's?« Wir erklärten ihm daraufhin, was wir vorhatten - nämlich Zwiebelkuchen essen und einen Bummel durch die »Müller-Galerie«.
Mit dem Auto ging es los Richtung Stadtmitte. Das Einsteigen war nicht ganz einfach, da Michi sehr groß ist und ein Golf-Cabrio nicht viel Sitzhöhe bietet. Aber Michi trug es mit Fassung und zog genügsam das Genick ein.
Sich freuen wie ein Kind
Auf dem Parkplatz angekommen, wollte er unbedingt das Parkticket lösen, was er auch selbstständig schaffte. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich früher auch immer freute, wenn ich irgendwo bezahlen durfte. Doch inzwischen ist so etwas für mich eigentlich kein Abenteuer mehr, sondern gehört zum Alltag.
Zu Fuß gingen wir also vom Parkplatz zum ZOB. Dort geschah etwas wirklich Beeindruckendes: Man muss wissen, dass Michi eigentlich nicht lesen kann, er erkennt lediglich einige Buchstaben und Zahlen. Ich staunte, als er mir dort erklärte, welche Buslinie zu welchem Fahrziel gehört. Da hatte er mir echt etwas voraus.
Handeln wie ein Erwachsener
Weiter ging's zur Müller-Galerie, wo wir zuallererst die Rolltreppe ansteuerten. Michi ist ein leidenschaftlicher Rolltreppenfahrer. Und auch das erinnerte mich an meine Kindheit. Welches Kind tut das nicht gern? Deshalb gönnten wir ihm gleich zweimal rauf und wieder runter. Er meinte, nachdem er hinter sich die anderen Leute, die die Rolltreppe benutzten, sah: »Vierhundert Leute!«
Jetzt gab es den schon lange erwarteten Zwiebelkuchen und Michi bestand darauf, uns von seinem Geld einzuladen. Ich glaube, dadurch fühlt er sich irgendwie erwachsen.
Wir spazierten noch eine Weile durch das Geschäft und Michi sammelte eifrig alle möglichen Prospekte ein, die er zuhause aufheben will. Außerdem wollte er - allerdings diesmal mit meinem Geld - die Zeitschrift bezahlen, die ich mir kaufte.
Gegen 17 Uhr traten wir die Heimreise an. Seiner Mutter erzählte er dann, was wir alles erlebt hatten. Vor allem waren ihm die »vierhundert Leute« auf der Rolltreppe wohl sehr eindrücklich gewesen. »Beim nächsten Mal nehmen wir deinen Bruder aber auch noch mit«, meinte er abschließend. Ein interessanter Nachmittag ging damit für Michi zu Ende. Auch mir hat dieser Nachmittag Spaß gemacht. Vor allem war es schön, zu sehen, welche Freude Michi dabei hatte. Ich kann sagen, dass ich, obwohl ich nicht den Eindruck habe, dass Michi ein unglücklicher Mensch ist, sehr froh bin, dass ich gesund bin.
Hauptsache gesund
Wir alle sollten uns bemühen, alles zu tun, um diese Gesundheit zu erhalten. Bei dem Gedanken, dass bei einem Vollrausch ebenso wie bei einem epileptischen Anfall Gehirnzellen absterben, kann ich nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die sich so etwas absichtlich antun. (ZmS)
Dennis Pfisterer, Hermann-Kurz-Schule, Klasse 10