Logo
Aktuell Bildung

Raus aus der Einbahnstraße

** REUTLINGEN. Als wir in der 4. Klasse waren, also im Schuljahr 2010/2011, warteten wir alle gespannt auf unsere Abschlusszeugnisse der Grundschule und gleichzeitig auch auf die verbindliche Grundschulempfehlung. Wo würde unser Weg hinführen?

Das Schulsystem eröffnet viele Wege. Hauptsache ist: Man findet den, der für einen selbst der Richtige ist, den eigenen Stärken
Das Schulsystem eröffnet viele Wege. Hauptsache ist: Man findet den, der für einen selbst der Richtige ist, den eigenen Stärken entspricht und zum beruflichen Ziel führt. FOTO: ZMS
Das Schulsystem eröffnet viele Wege. Hauptsache ist: Man findet den, der für einen selbst der Richtige ist, den eigenen Stärken entspricht und zum beruflichen Ziel führt. FOTO: ZMS
Die Entscheidung lag dabei größtenteils bei den Lehrern. Ohne Empfehlung für das Gymnasium oder die Realschule konnten Eltern ihre Kinder nicht auf eine weiterführende Schule schicken, auf der man später zur Hochschulreife gelangen kann. Wollten die Eltern diese Entscheidung nicht akzeptieren, gab es nur die Möglichkeit, dass die Schüler sich an schwierigen Eignungstests versuchen und diese bestehen mussten.

Im Jahr 2012 wurde die verbindliche Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg abgeschafft. Nun können die Eltern selbst entscheiden, welche Schulart ihre Kinder besuchen sollen. Diese Wahlfreiheit bietet sowohl positive als auch negative Aspekte.

Da bei uns eine gute Schulbildung wesentlich zum späteren beruflichen Erfolg gehört, möchten natürlich alle Eltern für ihre Sprösslinge, dass sie ein Gymnasium oder zumindest die Realschule besuchen. Wenn Kinder auf eine für sie nicht geeignete Schulart gehen, kann es passieren, dass sie maßlos über- oder unterfordert sind. Die Folge davon sind oftmals Störungen des Unterrichts, weil die Heranwachsenden Unruhe stiften, andere Schüler ablenken und sich allgemein disziplinlos verhalten. Überforderung kann aber noch weiter gehen: Viele Schülerinnen und Schüler klagen bereits in den ersten Jahren auf der weiterführenden Schule über psychosomatische Beschwerden wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Migräne und vieles mehr.

Begabung hat viele Facetten

Auf dem Gymnasium wird eine spezielle Arbeitshaltung und Art zu lernen gefordert, die durchaus nicht jedem Kind entspricht und auch nicht entsprechen muss. Viele haben ihre Talente woanders, beispielsweise im handwerklichen Bereich. Es kann passieren, dass diese persönlichen Talente und Vorlieben durch den Besuch einer ungeeigneten Schulart unentdeckt bleiben. In extremen Fällen kann daraus eine komplette Verweigerung des Schulbesuchs werden.

Anfangs betrachteten wir besonders diese negativen Aspekte der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung, doch nach einem Interview mit Ulrike Stiens, einer Deutsch- und Englisch-Lehrerin am Albert-Einstein-Gymnasium, wurden auch positive Aspekte deutlich. Ihrer Erfahrung nach gibt es auch Überraschungen in die positive Richtung. Gymnasialempfehlungen würden in den allermeisten Fällen stimmen, jedoch nicht immer. Die Leistungen der Grundschüler hingen von vielen Faktoren ab und spiegelten nicht unbedingt immer die Begabung und das Potenzial eines Kindes wirklich wider. Krankheitsphasen, Trennung der Eltern, aber auch entwicklungsbedingte Unterschiede könnten sich hier beispielsweise bemerkbar machen.

Die Frage, ob sie persönlich die verbindliche Grundschulempfehlung wieder einführen würde, verneinte sie, da sie findet, dass die Schule als einzige entscheidende Instanz damit zu viel Macht über den weiterführenden Weg der Kinder habe. Zwar sei unser Schulsystem durchlässig, aber oft blieben die Menschen dann doch auf dem, zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben eingeschlagenen, Bildungsweg. Die Aufgabe der Grundschullehrer, die Kinder richtig einzuschätzen, betrachtet Ulrike Stiens als sehr verantwortungsvolle Arbeit, bei der viel Einfluss auf die spätere Laufbahn der Kinder ausgeübt werde.

Außerdem findet sie es wichtig, dass im Zuge der Schullaufbahnberatung Gespräche mit den Beteiligten stattfinden. Bei diesem Gespräch sollten beide Seiten gehört werden, nicht nur die der Lehrerinnen und Lehrer. Es gebe immer wieder auch Einzelfälle, bei denen die Empfehlungen nicht stimmen würden – und diese Kinder hätten jetzt eine Chance. Bei Kindern mit Förderbedarf gibt es beispielsweise am AEG jeweils einmal in der Woche eine Stunde in den Fächern Mathematik und Deutsch, in der die Kinder in einer kleineren Gruppe Themen wiederholen und üben. Die meisten kämen so besser mit. Bei größeren Wissenslücken sollten die Kinder dann eventuell spezielle Nachhilfe bekommen. Falls sich auch dann der gewünschte Erfolg nicht einstellt, könne es ratsam sein, nach gründlichen Erwägungen auch die Schulart zu wechseln.

Chance für Spätzünder

Diese Sichtweise der Lehrerin Ulrike Stiens fanden wir sehr interessant. Nach unseren Recherchen und den Gesprächen sehen wir die Grundschulempfehlung, egal ob verpflichtend oder freiwillig, nur als Wegweiser und nicht als Einbahnstraße, da unser Schulsystem, wie schon erwähnt, glücklicherweise durchlässig ist und auch für »Spätzünder« Chancen bietet. (ZmS)

Tania Koupantseli und Isabel Müller, Albert-Einstein-Gymnasium, Reutlingen, Klasse 9b