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Aktuell Soziales

»Mir wird alles zu viel«

TÜBINGEN. »Ich kann morgens nicht mehr aufstehen.« – »Ich werde gemobbt.« – »Ich habe keine Lust mehr auf Schule!« Warum leiden so viele Schülerinnen und Schüler unter Leistungsdruck? Wir haben uns mit Jonas Grathwol, einen der Sozialpädagogen der Gymnasien in der Uhlandstraße in Tübingen, unterhalten.

Ein Mädchen hält sich die Hände vor das Gesicht.  FOTO: DPA
Ein Mädchen hält sich die Hände vor das Gesicht. FOTO: DPA
Ein Mädchen hält sich die Hände vor das Gesicht. FOTO: DPA
Leistungsdruck hat ganz unterschiedliche Ursachen, sagt Jonas Grathwol. Die Schule ist nicht der einzige Stressfaktor. Auch Mobbing spielt eine Rolle – in der Clique, im Verein, natürlich auch in der Schule. Manche haben dann auch noch zu wenig Ausgleich zur Schule, zu wenig Zeit oder Gelegenheit, etwas ganz anderes zu tun, zum Beispiel Aktivitäten im Freien machen oder einfach mal nichts tun, das heißt auch bewusster, zeitweiser Verzicht auf soziale Medien.
»Ich habe das Gefühl, mehr Freizeit als die Schüler heutzutage gehabt zu haben«
Einer der größten schulischen Stressfaktoren ist der stets präsente Druck, gute Noten schreiben zu müssen. Für Schüler zählt ein guter oder sehr guter Abiturdurchschnitt zu den wichtigsten Voraussetzungen für den optimalen Start ins Berufsleben. Vorbilder sind in vielen Fällen die Eltern. Sie mit ihren erfolgreichen Karrieren zu beobachten oder hinter sich zu fühlen, führt oft zum stärker ausgeprägten Stress der Kinder.

"Ist G8 ein positiver Fortschritt oder doch ein zusätzlicher Stressfaktor?", fragen wir Jonas Grathwol. »Ich habe das Gefühl, mehr Freizeit als die Schüler heutzutage gehabt zu haben«, ist eine erste Antwort auf unsere Frage. Lange Schultage und intensiverer Schulstoff überfordern etliche Schüler.

Durch den Wegfall einer Jahrgangsstufe fehlt ein Jahr des Ausgleichs und der Konsolidierung nach den anstrengenden Klassen 9 und 10 und vor den Jahrgangsstufen 1 und 2. Da jetzt die 11. Klasse fehlt, fehlt sozusagen ein Jahr, in dem die Schüler einfach mal »abhängen« können. »Für mich war dieses Schuljahr ein Jahr der Entspannung«, sagt Grathwol, »ich hatte Zeit, mich auch außerschulisch zu betätigen.«

Ein wichtiger Punkt, der in der ganzen Diskussion zu beachten ist, ist die intellektuelle Reife der Schüler. Oft wird aber der Unterrichtsstoff dem Alter nicht gerecht. Das heißt, viele Schüler interessieren sich nicht für den Unterricht oder verstehen den komplexen Schulstoff noch nicht.

Vor allem Schülerinnen der 9. bis 11. Klasse haben oftmals auch zu viele Hobbys, die in vielen Fällen leistungsorientiert sind. Ihnen fehlt Zeit, in der sie einfach mal abschalten können. Ein gemäßigter Ausgleich zur Schule, der nicht zu wenig und nicht zu viele Hobbys beinhaltet, ist meistens der beste Weg, Stress zu verringern. Den Schülern der 5. und 6. Klassen wird die weiterführende Schule oft zu viel. Ein häufiger Grund ist die nicht mehr vorhandene Schulempfehlung in der 4. Klasse.

Viele Eltern, die natürlich die bestmögliche Schulbildung für ihr Kind möchten, schicken ihr Kind auf das Gymnasium. Dort sind einige Schüler vom Lernstoff und dem stressigen Schulalltag überfordert. Heutzutage sind viele sehr gute Schulbildungswege möglich. Den richtigen Schulbildungsweg für das eigene Kind zu finden, ist einfacher als gedacht: Auch andere Bildungswege in Betracht zu ziehen, ist eine Möglichkeit, dem Leistungsdruck aus dem Weg zu gehen.
»Der Leistungsdruck hat zugenommen, seit G8 eingeführt worden ist«
»Hat der Leistungsdruck über die Jahre zugenommen?« »Ja. Vor allem seit G8 eingeführt wurde,« ist die eindeutige Antwort von Jonas Grathwol.

Rund 75 Prozent aller Sozialgespräche Grathwols haben ihre Ursache in schulischem Leistungsdruck. Immer mehr Schülerinnen und Schüler leiden unter gravierendem Leistungsdruck. Was wären Lösungsansätze, um diese Entwicklung zu stoppen? Am Gymnasium wieder G9 oder eine bessere Anpassung der Lehrpläne, ein guter Ausgleich zur Schule, nicht nur leistungsorientierte Hobbys, Schulstoff, der der psychischen Reife der Schüler entspricht, insgesamt weniger Schuldruck und die Suche nach dem passenden Bildungsweg für das jeweilige Kind wären zu nennen. (ZmS)

Caroline Ziegler, Carolin Stern und Zora Thum, Wildermuth-Gymnasium Tübingen, Klasse 9b