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Lebensgeschichte: Wie es ist, adoptiert zu sein

Wie es ist, adoptiert zu sein, weiß ZmS-Reporterin Manuela aus eigener Erfahrung

Manuela war Blumenmädchen bei der Hochzeit ihrer leiblichen Eltern. FOTOS: ZMS
Manuela war Blumenmädchen bei der Hochzeit ihrer leiblichen Eltern. FOTOS: ZMS
Manuela war Blumenmädchen bei der Hochzeit ihrer leiblichen Eltern. FOTOS: ZMS

REUTLINGEN. Manuela kommt aus Kolumbien. Als Kleinkind wurde sie von einer deutschen Familie adoptiert. Wie es ist, ein Adoptivkind zu sein, schildert sie in einer Art Tagebuch ihres Lebens.

14. Dezember 2003; Kolumbien, Pasto:Ich werde im Krankenhaus von Pasto zur Welt gebracht. Meine Mutter Elsy Milena ist 15 Jahre alt, mein Vater Eduar Moncayo 22 Jahre alt. Ich bin ein ganz normales Baby, ahne nichts Schlimmes.

Januar bis März 2004; Pasto-Nariño: Meine Eltern versuchen, mich großzuziehen, doch es ist zu schwer, da meine Mutter noch in die Schule geht und mein Vater nach einem Job sucht. Meine Oma Marlene hat viele eigene Kinder, die gepflegt werden müssen.

Manuela als Baby.
Manuela als Baby. Foto: Gea
Manuela als Baby.
Foto: Gea

2. April 2004; in einer Holzhütte nahe des Vulkans Galeras: Nun bin ich fünf Monate alt. Ich liege verlassen in einem kleinen Bettchen. Es wird dunkel und ich bekomme Angst. Heiser vom Schreien und hungrig warte ich hoffnungsvoll auf eine bekannte Stimme, doch lange Zeit höre ich furchteinflößende Stille. Ich fühle mich einsam. Am nächsten Morgen höre ich das Geschrei meiner Mutter und Oma. Sie streiten sich oft. Ich fange an zu schreien, in der Hoffnung, auf mich aufmerksam machen zu können. Ich werde schnell müde und schlafe ein. Ich träume wirre Sachen.

Ein wichtiger Tag im April 2004; in den Armen meiner Oma: Ich werde durch laute und schmutzige Straßen in Pasto getragen, bis wir in einem Gebäude ankommen. Meine Oma unterhält sich auf Spanisch mit den Arbeitern der Behörde »ICBF« (Instituto Colombiano de Bienestar Familiar). Sie gibt mich zur Adoption frei.

April 2004 bis März 2005; in einem Haus in der Stadt Pasto: Vorübergehend werde ich zu einer Pflegefamilie gegeben, bis mich meine neuen Eltern aus Deutschland abholen kommen. Meine Pflegemutter Aura hält mich auf ihrem Schoß. Ihr Sohn Andrés (18) und ihre beiden Töchter Carolina (16) und Natalia (14) kümmern sich viel um mich. Ich bekomme alles Essen und Trinken der Welt, werde gebadet und bin nie alleine. Der Mann meiner Pflegemutter heißt Guillermo und ist Polizist. Ich lerne ein bisschen sprechen, Treppensteigen und Laufen.

11. März 2005; ein knappes Jahr später: Es treten ein sehr großer, ziemlich blasser Mann, eine genauso blasse Frau und ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren zur Tür meiner Pflegefamilie herein. Alle sind plötzlich in großem Aufruhr. Ich werde in die Arme der weißen Frau gegeben. Sie ist mir so fremd, dass ich anfange zu wimmern. Alle gehen aus dem Haus und fahren zu einem unheimlichen Gebäude. Ich muss dort meinen Finger auf ein Papier drücken. Ich habe plötzlich große Sehnsucht nach meiner Mutter, doch nun bin ich in den Armen einer neuen Mutter, die von jetzt an für mich zuständig ist. Sie kommt aus Deutschland. Meine Pflegemutter fängt an zu weinen, alle anderen auch. Mein zukünftiger großer Bruder Finn Manuel (4) sowieso.

Die letzten Tage waren sehr schrecklich für mich, ich wusste nicht, was mit mir passieren wird und heute kann ich mich nur noch in Form von seltsamen Träumen daran erinnern.

Ein paar Tage später:In einer Abflughalle am Aeropuerto Internacional in Bogotá (Hauptstadt Kolumbiens): Wir (nur noch die neue Mutter, der neue Vater, mein neuer Bruder und ich) betreten ein riesiges Flugzeug. Nach anderthalb Tagen kommen wir hundemüde in Stuttgart an.

15. März 2005; Deutschland: Es ist kalt und es liegt Schnee. Es riecht anders und alles ist neu und fremd für mich. Ich werde in ein großes Haus getragen. Das Essen schmeckt komisch. Ich vermisse all die fürsorglichen Menschen in Kolumbien. Doch ich spüre, dass sie meilenweit von mir entfernt sind.

Neun Jahre später; mit meinem Vater in Kolumbien: Ich bin zehneinhalb Jahre alt. Ich sehe meine leibliche Familie. Das ist ein großes Glück, da viele Adoptivkinder ihre leibliche Mutter nicht einmal kennen. In der Zwischenzeit habe ich noch drei jüngere Geschwister bekommen. Paula, Mayerli und Daniel, der Jüngste. Alles ist eigentlich vertraut. Aber doch so seltsam. Wir sind zur Hochzeit meiner leiblichen Eltern eingeladen. Es ist sehr toll, denn ich darf Blumenmädchen sein. Danach ist die Taufe meines kleinen Bruders. Es ist alles ziemlich rührend. Der Abschied fällt schwer. Danach besuche ich meine Pflegefamilie und Freunde, die mich noch gut in Erinnerung haben.

13 Jahre später; ich, alleine in Kolumbien: Ich kann mich besser auf Spanisch verständigen. Meine leibliche Mutter ist nun 30 Jahre alt und erzählt mir Vieles über die Vergangenheit. Sie ist warmherzig und strahlt viel Lebensfreude aus, auch wenn sie eigentlich unter armen Bedingungen leben muss. Ich lerne meinen Onkel Carlos kennen. Er ist Soldat. Auch andere Verwandte bekomme ich zu Gesicht. Es ist eine ziemlich große Familie, da meine Oma elf Kinder hat. Somit ist meine jüngste Tante fünf Jahre alt. Das wäre in Deutschland sehr seltsam. Auch meine Pflegefamilie sehe ich erneut. Wir besuchen Rummelplätze, da ich Schaukeln jeder Art schon immer geliebt habe.

»Ich habe riesiges Glück, dass ich meine ganze leibliche Familie kenne«

14. Dezember 2018; eigene Gefühle und Zusammenfassung: Ich werde 15 Jahre alt. In Kolumbien ist das ein großes Fest für Mädchen. Manchmal weiß ich nicht, wie ich mich eigentlich fühlen soll. Es ist schwer zu beschreiben, aber manchmal ist eine Leere in mir, die man mir von außen überhaupt nicht ansieht. Zum Beispiel wenn andere sagen: »Mein Herz sagt mir …« oder »Höre auf dein Bauchgefühl«, dann höre und spüre ich gar nichts. Bei manchen Gefühlen wie Ängsten, Fantasien oder Freude weiß ich, dass ich sie vom ersten Lebensjahr her kenne. Und wenn mich mal eine Sorge bedrängt, erzähle ich sie meinem Kater Grisu oder dem anderen Kater Giotto, denn sie hören immer zu und erzählen es nie jemandem weiter.

Vieles fällt mir und anderen Adoptivkindern schwerer als anderen. Zum Beispiel, sich mit seinen Eltern abzufinden. Ich werde häufig gefragt, ob es nicht doof ist, wenn die eigene Mutter so weit weg ist. Doch ich habe nichts zu verstecken und antworte meist: »Ich habe riesiges Glück, dass ich meine ganze leibliche Familie kenne.« Das Schwierigste für mich ist nur, mich selbst zu finden und so zu akzeptieren, wie ich bin. (ZmS)

 

Die Lebensgeschichte von Manuela, Schülerin eines Reutlinger Gymnasiums, rekonstruiert aus Erinnerungen und Erzählungen.

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