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Aktuell Geschichte

Froh, überlebt zu haben

REUTLINGEN-BETZINGEN. Vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945, war der Zweite Weltkrieg für Deutschland zu Ende. Am 7. Mai 1945 wurde die Kapitulation Deutschlands in Reims unterschrieben, am 9. Mai in Berlin nochmals. Der 8. Mai 1945 in Betzingen war ein sonniger warmer Tag. Familien gingen spazieren. Mein Großvater war damals nicht viel älter als ich es heute bin, er war in Betzingen zu Hause. Wenn er von damals erzählt, sehe ich Bilder aus einer anderen Zeit. Darum beginne ich, seine Erinnerungen aufzuschreiben, damit ich sie nicht verliere.

Sehr junge und sehr alte Männer

Der Volkssturm bestand aus sehr jungen und sehr alten Männern, die auch in Betzingen zur Verteidigung aufgerufen worden sind. Viele flüchteten, bevor die Franzosen kamen, und legten ihre Waffen nieder. Einige zogen im Garten meiner Urgroßmutter ihre Uniformen aus und rannten so nach Hause. Schon am 20. April 1945 wurde Reutlingen den Franzosen kampflos übergeben. Als die Franzosen in Betzingen einmarschierten, hingen viele Familien weiße Fahnen zu den Häusern hinaus.

Die Menschen freuten sich sehr, da es keine Schießereien und keinen Fliegeralarm mehr gab. Es war untersagt, nach 20 Uhr nach draußen zu gehen. Die Verdunklungspflicht wurde aufgehoben, doch viele Familien behielten sie bei, da sie nicht auffallen wollten.

Die Sorgen um die Soldaten

Die Sorge um die eigenen Soldaten war allgegenwärtig und man hoffte, dass sie bald zurückkehren würden. Viele von ihnen befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft, manche wurden nicht gut behandelt, andere waren gefallen.

Kein Schulunterricht mehr

Der Nationalsozialismus war zu Ende, die Menschen waren froh, überlebt zu haben, doch große Ungewissheit herrschte. Da war die Angst vor französischen Besatzungssoldaten, vor Übergriffen von Kriegsgefangenen oder Fremd- und Zwangsarbeitern. Nationalsozialisten und Wehrmachtsangehörige wurden gesucht und verhaftet. Wie würde es weitergehen?

Es gab keinen Schulunterricht mehr, sodass mein Urgroßvater meinen Großvater selbst Englisch beibrachte. In ihrer Freizeit sammelten mein Großvater und seine Freunde Waffen, die aus den letzten Kriegstagen überall zu finden waren, mit dem Leiterwagen ein. Gegen Geld gaben sie diese an einer Sammelstelle im Reutlinger Rathaus ab. Die Eltern wussten nichts davon, sie hätten es nicht erlaubt! Später sammelten sie Weinbergschnecken, die ihnen die Franzosen abkauften.

Beginn der Völkerfreundschaft

Im Elternhaus meines Großvaters wohnten zwei französische Funksoldaten, später zog noch ein höflicher französischer Offizier ein. So lernte mein Großvater Französisch, das er bis heute beherrscht und gerne spricht. Das war der Anfang einer Völkerfreundschaft und langen Friedenszeit, die uns bis heute erhalten ist. (ZmS)

Mathilde Hornung, Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen, Klasse 9b