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Aktuell INTERVIEW

Durchschnittlicher Puls: 168 Schläge

MÖSSINGEN. Als Schiedsrichter wird man oft beschimpft, etwas falsch gemacht zu haben. Zu diesem wachsenden Druck von außen kommt noch die Verantwortung für ein faires Spiel. Warum soll man unter solchen Bedingungen diesen Beruf ausüben? Zu dieser Frage haben wir uns mit dem Bundesliga- und ehemaligen FIFA-Schiedsrichter Knut Kircher getroffen.

ZmS: Warum sind Sie Schiedsrichter geworden?

Knut Kircher: Ich wurde damals vom Verein gefragt, der nach Neulingen suchte. Ich war in der B-Jugend beim TSV Hirschau Fußballspieler. Es sind außer mir noch drei andere Jungs aus der B-Jugend damals von dem Jugendleiter angesprochen worden. Aus keinem bestimmten Beweggrund habe ich dieser Anfrage zugestimmt. Da die Schiedsrichterei etwas Neues für mich war, dachte ich, es könnte Spaß machen und habe es ausprobiert.

Sie sind seit neun Jahren FIFA-Schiedsrichter. Über welche Stationen lief das?

Kircher: Die FIFA-Schiedsrichterei hat 2004 angefangen und 2012 aufgehört. Das geht immer nach Kalenderjahren. FIFA-Schiedsrichter kann man nur werden, wenn man Bundesliga-Schiedsrichter ist. Für uns ist das auch ein Wettbewerb, da wir in den höchsten beiden Spielklassen von einem neutralen, ehemaligen Schiedsrichter derselben oder einer höheren Klasse eine schriftliche Bewertung unserer Arbeit nach festgelegten Kriterien bekommen. Wenn man so die Bundesliga erklimmen kann, dann werden noch andere Kriterien herangezogen, zum Beispiel, ob man als Schiedsrichter im deutschen Fußball Zukunft hat. Die haben sie bei mir wohl in einem recht jungen Alter gesehen, deshalb wurde ich auf die FIFA-Liste gesetzt. In der FIFA-Liste selber sind noch mal Gruppierungen bis zur Top-Klasse, in der die Schiedsrichter sind, die für die WM nominiert werden.

»So ein Spiel kann schon mal zwei bis drei Tage nachhalten«
Beschäftigen Sie sich nach dem Schlusspfiff noch mit dem Spiel?

Kircher: Das hängt vom Spiel ab. Wenn es ein Spiel ist, bei dem die Mannschaften und die Öffentlichkeit nichts von einem wollen, dann hakt man ein Spiel mit der Zeit recht schnell ab. Wenn das Spiel nicht so gut lief, und man auch in der Öffentlichkeit mit seinen Entscheidungen mehr im Fokus steht, dann schaut man sich das Spiel noch mal an und überlegt sich, wie man die Fehler beim nächsten Mal vermeiden kann. So ein Spiel kann schon mal zwei bis drei Tage nachhalten. Nehmen wir als Beispiel das Phantomtor, ich glaube, dass da der Schiedsrichter mit seinem Team noch relativ lange überlegt hat, wie so etwas passieren konnte. Und vor allen Dingen im Hinblick auf das nächste Spiel: Wie können wir das beim nächsten Mal vermeiden?

Verteidigen Sie den Schiedsrichter, der beim Phantomtor gepfiffen hat?

Kircher: Letztendlich war es ja nachweislich eine Fehlentscheidung. Ich verteidige ihn auch gar nicht, sondern versuche, mich in die Lage des Schiedsrichters zu versetzten. Was fühlt dieser auf dem Feld, was nimmt er wahr und wie möglich oder unmöglich ist es, an seiner Stelle tatsächlich rational zu denken. Die Schiedsrichter haben eine durchschnittliche Herzfrequenz während dem Spiel von 168 Schlägen pro Minute. Wenn man das vergleicht mit einem ruhigen Puls von 70, den man zu Hause auf dem Sofa hat, dann bemerkt man einen großen Unterschied. Wer daheim die Zeitlupen sieht, der sagt sofort »Wie kann man denn so etwas übersehen?« Aber wenn man in dem Spiel ist und dann auch noch das Spieler- und Zuschauerverhalten sieht, alles in die Waagschale wirft, dann hofft man auf einen Impuls von außen. Wenn der ausbleibt, dann sieht der Schiedsrichter den Ball im Tor liegen und sagt sich, irgendwie muss der da reingekommen sein.

Wie stehen Sie zur Torlinientechnik?

Kircher: Her damit. Das ist schon lange ein Thema, zu dem ich sage, wenn wir eine technische Lösung haben, die ein Tor nachweislich entscheiden kann, dann sage ich, her damit. Es gibt kaum einen Schiedsrichter, der sich dagegen wehrt, im Profibereich, wo eine Fehlentscheidung noch fataler ist, die Torlinientechnik einzuführen. Allerdings darf man die Torlinientechnik nicht mit dem Videobeweis verwechseln, der das Spiel oft aufhalten und unterbrechen würde.

»Angst ist der schlechteste Weg für eine richtige Entscheidung«
Wie ist die Verteilung mit den Schiedsrichtergespannen in der Bundesliga geregelt?

Kircher: Es wird darauf geachtet, dass man immer das gleiche Team hat. Ich habe zwei Schiedsrichterkollegen, die aus dem Südbadischen Fußballverband kommen. Im deutschen Fußball gibt es die Verbandssperre, das heißt, wir dürfen eigentlich keine Spiele leiten, bei denen eine Mannschaft der Ersten oder Zweiten Liga aus dem gleichen Fußballverband wie ein Unparteiischer spielt. Für mich sind also Aalen und der VfB Stuttgart tabu, für die anderen zwei ist es Freiburg. Wenn ich ein Spiel mit Freiburger Beteiligung hätte, dürften sie nicht dabei sein. Wer welche Spiele pfeift, entscheidet der Ansetzer, der Vorsitzende der Schiedsrichterkomission in Deutschland. Er schaut sich den Spieltag der ersten drei Ligen an und entscheidet dann, je nach Erfahrung des Schiedsrichters und Wichtigkeit des Spiels, welcher Schiedsrichter welches Spiel pfeift. Zehn Tage vor dem Spiel bekommen wir eine Mail, in der steht, dass wir ein Spiel pfeifen.

Gibt es Ihrer Meinung nach zu viel Gewalt beim Fußball?

Kircher: Ja, weil viele Leute Gewalt und Fußball nicht trennen können. Das fängt schon in der Jugend an, wo wir Eltern Vorbild sind. Wenn Aggressionen von Außen nach Innen getragen werden, können die Jungs und Mädels nichts damit anfangen. Was gar nichts auf dem Fußballplatz zu suchen hat, ist das Schlagen, sei es von Gegenspielern, von Fans oder gar von Schiedsrichtern. Körperliche Gewalt hat mit Fußballspielen nichts mehr zu tun.

Gibt es Situationen, in denen Sie Angst vor aggressiven Spielern oder Fans haben?

Kircher: Nein, gar nicht. Respekt ja, Angst nein. Angst ist der schlechteste Weg für eine richtige Entscheidung. Wenn ein Schiedsrichter Angst hat, kann er nicht richtig entscheiden. (ZmS)

Leopold Höflsauer, Marc Kehrer und Leon Welte. Evg. Firstwald-Gymnasium Mössingen, Klasse 8a