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Aktuell Psychologie

Die Lügen scheinbar perfekter Mütter

REUTLINGEN/TÜBINGEN. Ein zehn Monate alter Säugling wird als Notfall in eine Klinik eingeliefert. Das Kind hat sich, so die Mutter, erbrochen, teilweise das Bewusstsein verloren und leidet unter starkem Durchfall sowie anderen diversen Symptomen. Die Ärzte machen aufwendige Untersuchungen, können jedoch keine eindeutige Diagnose stellen, weshalb sie der Mutter mitteilen, dass ihr Kind gesund sei, aber trotzdem zur Beobachtung in der Klinik bleiben solle. Kurze Zeit später verlässt die Frau mit ihrem Kind überstürzt die Klinik und ist nirgends auffindbar. Drei Tage später erfährt der leitende Arzt von einem Kollegen aus einer benachbarten Klinik, dass sich bei ihm ein ganz ähnlicher Vorfall abgespielt hatte. Es stellt sich heraus, dass es sich bei den auffälligen Müttern nicht um zwei, sondern um ein und dieselbe Person handelt.

Der Arzt wird hellhörig und informiert weitere im Umkreis liegende Kliniken. Deshalb gelingt es, die Mutter mit ihrem Kind in einer anderen Klinik ein paar Tage später aufzuhalten und einen Psychiater hinzuziehen. Dieser stellt fest, das die Mutter am Münchhausen-by-proxy-Syndrom leidet.

Vor allem Frauen sind betroffen

So, oder so ähnlich können sich Vorfälle ereignen, bei denen der Verdacht auf das Münchhausen-by-proxy-Syndrom besteht. Aber was versteht man unter diesem Syndrom? Es ist eine Erweiterung des »normalen« Münchhausen-Syndroms, das nach Baron Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen benannt wurde und größtenteils junge Männer zwischen 25 und 40 Jahren betrifft. Sie täuschen Krankheiten vor oder verletzen sich selbst, um in Kliniken Zuwendung zu bekommen.

Vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom - auch Münchhausen-Stellvertreter -Syndrom genannt - hingegen sind meist Mütter betroffen, die vortäuschen, ihre Kinder seien krank. Diese Frauen erzählen Lügengeschichten und verletzen ihre Kinder sogar absichtlich, damit sie bei den Ärzten Zuwendung bekommen und sich wie Heldinnen fühlen können, wenn sie ihr Kind beispielsweise angeblich vor dem Ersticken gerettet haben. Auf die Öffentlichkeit wirken sie oft wie perfekte Mütter, fürsorglich und liebevoll.

»Diese Krankheit ist nicht vererbbar und liegt meistens an der Kindheit der Erkrankten«, so die Psychiaterin Dr. Rena Schaletzky von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen. »Die betroffenen Frauen kommen häufig aus einem sozial schwächeren Umfeld und bekamen als Kind nur Zuwendung von Eltern und Ärzten, wenn sie krank oder verletzt waren«, so Schaletzky weiter. » Sie kommen mit ihren Kindern in verschiedene Kliniken mit den seltsamsten Symptomen und sind plötzlich verschwunden, sobald der Arzt das Kind für gesund erklärt hat, weil sie keine Zuwendung mehr bekommen.« Die Ärztin schildert extreme Vorfälle: »Dieses Verhalten der Ärzte kann manchmal zur Eskalation führen, wobei die Mütter, wenn sie die Gelegenheit haben, ihre Kinder verletzen oder vergiften. Sie geben zum Beispiel Desinfektionsmittel in die Infusion und rufen als besorgte Mutter die Krankenschwester.«

In anderen Fällen verweigern die Frauen Medikamente für ihr Kind. Säuglinge und Kleinkinder unter vier Jahren sind am meisten von dieser Art der Kindesmisshandlung betroffen, die Frauen können diese Krankheit jedoch auch erst Jahre nach der Geburt und somit in jedem Alter des Kindes bekommen. Die Krankheit ist schwer zu erkennen und auch nicht überall bekannt, da die Erkrankten nicht bei all ihren Kindern dieses Verhalten ausüben und ihr Partner meist nichts davon mitbekommt.

Arzt darf Schweigepflicht brechen

»Ärzte sind da meist machtlos. Sie könne einen Psychiater oder Psychologen hinzuziehen oder den Verdacht wie jeder andere beim Jugendamt melden. Bei Kindesgefährdung durch Fremdeinwirkung ist der Arzt daher auch verpflichtet, die Schweigepflicht aufzuheben«, sagt Rena Schaletzky. Da die Mütter Körpververletzung und damit eine Straftat begehen, werden sie im Ernstfall strafrechtlich verfolgt. Ein Psychologe stellt in einem Gutachten fest, ob die betroffene Person schuld- beziehungsweise zurechnungsfähig ist und wird je nach Ergebnis verurteilt, wobei das Strafmaß bis zur Freiheitsstrafe reicht.

Über dieses Syndrom gibt es noch keine genauen Zahlen oder Studien. Für die Zukunft ist es sinnvoll, dass die Bevölkerung mehr darüber erfährt und aufgeklärt wird. Zum Schutz der Kinder sollten die Ärzte, vor allem Kinderärzte, sich noch mehr mit diesem Thema beschäftigen und wachsamer sein. (ZmS)

Lena Schlachter, BZN-Gymnasium Reutlingen, Klasse 9e