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Das Beste aus zwei Welten

Ein Gastarbeiterkind? Eher eine Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund. Ceyda Yilmaz, deren Eltern 1970 nach Deutschland kamen, spricht mit ZmS-Reporterin Izgen Azimet über das Thema Integration und Klischees, die das Zusammenleben von Türken und Deutschen oft unnötig kompliziert machen. Über das schwierige, manchmal schmerzliche Pendeln zwischen zwei Kulturen. Eine Identitätssuche und -findung

PFULLINGEN. Ceyda Yilmaz ist 35 Jahre alt und ist Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund. Ihre Eltern kamen 1970 als Gastarbeiter nach Deutschland. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, machte ihr Abitur in Sigmaringen und ist seit acht Jahren Lehrerin an der Wilhelm-Hauff-Realschule Pfullingen und unterrichtet die Fächer Deutsch, Englisch, MUM (Mensch und Umwelt) und Ethik. Und sie ist meine Klassenlehrerin.

ZmS: Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen, meinte, deutsche Schulen sollten häufiger das Fach Türkisch anbieten. Was denken Sie darüber? Hat Cem Özdemir recht?

Ceyda Yilmaz: Als AG ja. Als Pflichtfach nur für die türkischen Kinder auch ja. Aber als Pflichtfach für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund gebe ich ihm nicht recht.

Warum nicht?

Yilmaz: Ich weiß die genaue Zahl nicht, aber ungefähr 2,5 Millionen Türken leben in Deutschland - soll das vielleicht ein Grund sein? Eine Weltsprache ist es auch nicht, wahrscheinlich ein weiterer vergeblicher Versuch der Integration.

Es muss doch aber andere Möglichkeiten geben, die Integration voranzutreiben. Was würden Sie vorschlagen?

Yilmaz: Erst mal möchte ich hier zur Sprache bringen, dass der Begriff Integration meiner Meinung nach ein weites Feld ist und von jedem Einzelnen verschieden empfunden und definiert werden kann. Hierbei ist auch die Sichtweise zu beachten. Wer entscheidet eigentlich, ab wann »Ausländer« integriert ist? Ist eine türkische Frau mit Kopftuch, die berufstätig ist und der deutschen Sprache mehr als mächtig ist, integriert? Ist ein junger Student mit türkischen Wurzeln, der religiös ist und freitags zum Beten in die Moschee geht, auch integriert? Ist man erst integriert, wenn man keinen kulturellen Unterschied sieht? Das heißt, dass die Frau erst dann integriert ist, wenn sie kein Kopftuch trägt und der Junge, wenn er nicht in die Moschee geht? Wer macht das eigentlich fest? Das sollte man, erst mal jeder für sich, überdenken. Ob man Integration an Äußerlichkeiten festmachen kann. Warum darf man seine Wurzeln nicht festhalten, diese äußerlich zeigen? Es wäre alles so viel leichter, wenn man toleranter wäre. Tolerant zu sein bedeutet, dass man anders sein darf. Man sollte keine Angst vor Fremdem haben. Und nur dadurch wäre es möglich, dass keine Vorurteile entstehen. Und die Türken, die in der deutschen Gesellschaft leben, nicht damit bestrafen oder mit Vorurteilen begegnen, weil der Islam weltweit in anderen muslimischen Nationen falsch ausgelegt und missbraucht wird, wodurch der Islam leider ein bedrohliches Bild erhält. Und das wiederum eine Mauer zwischen Deutschen und Türken in unserer Gesellschaft darstellt. Ohne Vorurteile, mit mehr Empathie für andere Kulturen, andere Sitten, Verhaltensweisen, mehr Verständnis haben füreinander, ohne ständig an Klischees zu hängen. Heute noch werde ich darauf angesprochen, dass türkische Männer einen Schritt vor ihren Frauen laufen. Keine Ahnung ... interessant, dass mir solchen Türken nie begegnen. Vielleicht geht der Mann einfach schneller als die Frau oder sie schlendert gemütlich, während der Mann ein zügiges Tempo hat?

Dann bedienen sich Deutsche immer noch an den Klischees?

Yilmaz: Nee, nee. Die Türken tragen da auch ihr Päckchen mit. Weißt du Izgen, beide Seiten sind zum Teil so voller Vorurteile. Viele Türken und Deutschen erschweren sich so das Aufeinanderzugehen. Die Türken sind vorsichtig. Manche sind verletzt, weil sie oder Bekannte Ausgrenzung erfahren haben. Sei es beruflicher oder privater Art. Ständig werden Klischees eben auch bedient, wie du das vorher nanntest. Neulich erst gab es hier auf der ZmS-Seite ein Bild von türkischen Mädchen, die Kopftücher tragen. Einerseits ist das gut, weil es der Realität entspricht, auch wenn man es nicht gerne sieht, aber andererseits ist das ein Mittel, das missbraucht werden kann, um Vorurteile zu nähren. Also liegt die Interpretation des Bildes im Auge des Betrachters. Wieso soll ein Kopftuch ein Hindernis für Integration sein? Die Religion, in diesem Fall der Islam, ist ein Mittel für die persönliche Identifizierung, dabei ist das Kopftuch bei manchen Türkinnen ein äußerliches Merkmal und der Moscheebesuch eine Sicherheit für die Seele. Außerdem ist die Moschee nicht nur ein Ort des Glaubensbekenntnisses oder das Ausüben von Gebeten, sondern ist darüber hinaus viel mehr eine Begegnungsstätte der türkischen Gemeinschaft, die sich in anderen Räumlichkeiten der Moschee treffen. Genauso gehen Deutsche sonntags in die Kirche oder treffen sich in ihren christlichen Gemeinden.

Wieso sind vor allem türkische Jugendliche so mit ihrer Religion verbunden?

Yilmaz: Da können viele Faktoren zusammenspielen. Einen Halt suchen, Sicherheit spüren, Gemeinsamkeit erleben, zum Teil Zwang durch Elternhaus. Darüber habe ich mich schon immer gewundert, dass Freunde ganz stolz sagten, »Ich bin Moslem!« Das verstehe ich heute noch nicht. Man plagt sich Jahre lang ... vor allem in der Pubertät mit den körperlichen Veränderungen. Dann kommen die Identitätsprobleme dazu. Und dann gab es die anderen türkischen Kinder, die waren damals weiter als ich. Während ich suchte ... waren die sogar schon Moslems? Vielleicht bin ich deswegen heute ein Stück weiter als manch anderer Türke. Was aber nicht bedeutet, dass ich antitürkisch eingestellt bin. Ich finde nur, dass die meisten Türken sich durch enge Sichtweisen das Leben hier in Deutschland unnötig schwer machen. Zum Glück haben unsere Eltern uns immer unterstützt. Ihnen war es immerzu wichtig, dass wir viel Kontakt zu deutschen Kindern haben. Ständig waren die Nachbarskinder bei uns, wir bei denen. Sie haben uns an jeder Schulveranstaltung teilnehmen lassen. Da gab es kein »Nein, das geht nicht. Wir sind Türken, Türken machen das nicht.« Viele türkische Kinder haben dieses Glück leider nicht und werden durch das Elternhaus noch mehr isoliert.

»Sehe das Leben mit zwei Kulturen nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung«
Und Sie sind Lehrerin. Ich möchte auch Lehrerin werden. Sie sind mein Vorbild!

Yilmaz: Du bist aber lieb. Halte an deinen Idealen fest. Lass dich nicht durch die Meinung anderer beirren. Gehe deinen Weg und sehe das Leben mit zwei Kulturen nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung!

Sind Kinder mit Migrationshintergrund eine Bereicherung für Ihren Unterricht?

Yilmaz: Sicher. Die Schule ist eine wichtige Begegnungsstätte verschiedener Kulturen. Ein wichtiger Ort, um die Ressourcen der Kinder zu nutzen und in den Unterricht einzubringen und um allen Kindern, mit und ohne Migrationshintergrund, kulturelle Kompetenz zu vermitteln, ihnen Weitsichtigkeit mitzugeben.

Glauben Sie, dass Kinder mit Migrationshintergrund Schwierigkeiten haben, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.

Yilmaz: Oh ja, da kann ich wohl aus dem Nähkästchen plaudern. Also erst einmal habe mich ich erst die letzten Jahre mit meiner Herkunft so richtig bewusst auseinandergesetzt. Über Dinge nachgedacht, reflektiert, die in meinem Leben passiert sind. Dinge, die ich beschlossen habe, Wege, die ich gegangen bin. Meine Schwester hat einmal gesagt, dass man manchmal sein eigenes Schicksal nicht in der Hand hat. Wie Recht sie hat. Wo fang ich jetzt nur an.

Vielleicht erst damit, warum es schwierig ist, zwischen zwei Kulturen zu leben.

Yilmaz: Zwischen ist gut. Man lebt in der Jugend, vor allem in der Pubertät, wo man vieles so oder so nicht versteht, wirklich dazwischen. Ich erinnere mich an eine Phase, in der ich auf meiner Jeansjacke eine Türkeiflagge hatte. Ich glaub ich war 14.

Was sagten Ihre Eltern dazu?

Yilmaz: Weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Auf jeden Fall hatte ich aber genauso eine Phase, in der ich mich im Tante Emma Laden bei uns im Gutenstein hinter den Regalen versteckte, wenn irgendeine türkische Bekannte oder Bekannter hereinkam. Ich hatte richtig Angst, dass die mit mir dann Türkisch sprechen und ich mich schrecklich schämen muss - vor den Deutschen, weil die dann wissen, dass ich Türkin bin. Komisch, wobei das doch so oder so alle wussten. Da war ich noch jünger als 14. Ganz komisch. Naja, und das ist doch so ein Zeichen der Zerrissenheit. Und da mir nie jemanden gesagt hat, dass es eigentlich normal ist, dass man so empfinden kann, habe ich es nicht besser gewusst. Ist es bei dir auch so?

Ja, manchmal denkt man gar nicht so arg drüber nach, bis man dann immer wieder daran erinnert wird. In der Türkei, wenn wir im Urlaub sind, fragen mich alle »Und? Vermisst du dein Heimatland?« In Deutschland fragen mich Freunde manchmal »Und? Träumst du eigentlich deutsch oder türkisch? Bist du eigentlich eher Deutsche oder Türkin?«

Yilmaz: Das kenn ich. Das sind so Situationen, die einen so indirekt daran erinnern, dass man über seine Herkunft nachdenken sollte und dass man sich irgendwie entscheiden sollte. So habe ich das immer empfunden. Muss man aber nicht. Beide Kulturen sind eine Bereicherung für mein Leben - mittlerweile. Aus beiden Kulturen kann ich das herausfischen, was mir für sinnvoll erscheint, mir gut tut.

Gibt es dann Dinge, die Ihnen fremd sind?

Yilmaz: Gibt es. Wobei ich zugeben muss, bei den Türken mehr, als bei den Deutschen. Canan hatte einen deutschen Freund. An einem Wochenende besuchte ich sie. Das Erste, was ihr Freund sie fragte, war: »Und, wo schläft dein Besuch?« Er dachte, ich würde im Hotel schlafen. Das ist für mich typisch Deutsch. Natürlich weiß ich, dass nicht alle so sind. Wenn dieser Artikel veröffentlicht wird, gibt es sicherlich einige Leser, einige deutsche Leser, die darüber den Kopf schütteln, aber trotzdem war das für mich eine typische Frage. Bei den Türken sind mir ganz viele Dinge fremd. Der ganz extreme Familienzusammenhalt zum Beispiel. Die Selbstverständlichkeit, sich für alle Familienmitglieder aufzuopfern. Man darf auf keinen Fall egoistisch sein. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich meine Meinung sagte. Man kommt sich zum Teil vor wie eine Verräterin. Aber all das habe ich abgelegt. Das ist mein Leben, das ich lebe, und das nicht mehr vom Schicksal beziehungsweise von den türkischen Einflüssen, Erwartungen bestimmt wird.

Sie hatten vorher das mit dem Schicksal und Dinge, die Sie beschlossen haben, erwähnt. Was war das?

Yilmaz: Weißt du Izgen, ich sitze hier, und man könnte den Eindruck gewinnen, dass ich einen auf rehabilitierte Türkin mache, die jetzt Deutsche ist und völlig locker und flockig mit den zwei Kulturen umgeht. Aber um das hier alles so sagen zu können, sind mir in meinem Leben Dinge widerfahren, die mir gezeigt haben, dass ich meinen Platz suchen musste.

Wollen Sie darüber sprechen?

Yilmaz: Klar doch. Ich war mal verheiratet. Mit einem Türken. Sieben Jahre war ich davor mit ihm zusammen und wusste, dass egal wie progressiv meine Eltern waren - das Thema Freund tabu war.

Hat Ihr Vater das gesagt?

Yilmaz: Nein. Im Grunde wurde es nie ausgesprochen, aber ich weiß, was er über Mädchen sagte, die heimlich einen Freund hatten oder er von anderen türkischen Mädchen mitbekam, wenn sie mit einem Jungen gingen. Das ging nach seinen Vorstellungen nur, wenn sie sich verlobte oder heiratete. Also hielt ich meine Beziehung ganz lange geheim. Und als ich dann 27 war und schon lange nicht mehr daheim wohnte, wollte ich meinen damaligen Freund nicht mehr verheimlichen müssen. Ich wusste aber, wenn ich meinen Eltern sage, dann steht eine Hochzeit an - meine Hochzeit. Egal, ist halt so bei Türken. Ich machte das dann auch so. So richtig klassisch. Und mit 27, auf meiner eigenen Hochzeit, stand ich da oben auf der Empore und dachte, »Mensch Ceyda, was machst du da eigentlich. Das ist doch überhaupt nicht deine Welt.« Das dachte ich ein Jahr lang. Vor allem, wenn wir seine Familie besuchten. Ich sollte die typische Schwiegertochter sein, die immer ihre Tür für die ganze Familie offen stehen hat, die ständig am Kochen und Kümmern ist, die mit den Nachbarinnen zusammengluckt und türkische Serien anschaut, während die Männer im türkischen Café sitzen und Karten spielen. Ende gut, alles gut. Nach einem Jahr habe ich die Scheidung eingereicht. So, und das war es. Ein einschneidendes Erlebnis, was mir zeigte, wie sehr man doch geprägt ist von einer Kultur, wie fremd mir vieles doch ist. Fremd, aber doch eine Bereicherung. Aber wichtig anzumerken ist, dass das nicht in jeder türkischen Familie so sein muss, nicht alle Männer im Café sitzen und nicht jede türkische Frau mein Schicksal so erleben muss. Das habe ich, Ceyda Yilmaz, so erlebt und empfunden. Und das löste erneut einen inneren Konflikt in mir aus. Festzustellen, dass ich Deutsche bin und meine Eltern aus der Türkei kommen.

Dieser Sprung war doch sicherlich schwer?

Yilmaz: Ja, ziemlich. Sich dem zu widersetzen ist nicht leicht gewesen. Jetzt bin ich so was von glücklich und erfüllt. Ich wünschte, türkische Mädchen und Jungen könnte das viel früher verstehen, viel eher als ich. Ich wünschte, türkische Eltern würden ihre Kinder nicht so unter Druck setzen. Viele haben Angst, dass ihre Kinder ihre Wurzeln vergessen, zu deutsch werden. Aber das führt doch letztendlich dazu, dass vieles heimlich gemacht wird und somit Fehler begannen werden, die man in einem Gespräch vielleicht hätte verhindern können. Vor allem türkische Mädchen wären mit aufklärenden Gesprächen zufriedener.

»Ich sehe mich nicht als Gastarbeiterkind, sondern als Bürgerin Deutschlands«
Wie erklären Sie sich bestimmte »typische« Verhaltensweisen bei türkischen Jugendlichen?

Yilmaz: Vor allem bei Jungs gibt’s dieses besondere Verhalten. Dieses typische äußere Nationalbewusstsein. Sie sind cool, lässig, verhalten sich wie ausgewachsene Türken, die sich manchmal aufführen, als wenn es nur sie gäbe. Tragen die größte Kette mit dem Symbol der türkischen Flagge. Ständig verteidigen sie die Türkei und fühlen sich sofort angegriffen, wenn man sie mal kritisiert. Dadurch haben die meisten Jugendlichen nicht die Chance, sich selbst zu finden und ihre eigene Identität zu entdecken. Sie stehen sich selbst im Weg. Sie denken, sie gehören in die Türkei, was aber gar nicht so ist. Sicherlich gibt es den einen oder anderen, der wirklich in die Türkei zurückkehrt, aber letztendlich sind viele immer so vorlaut, weil sie mit ihrer Unsicherheit nicht klarkommen. Sie sind orientierungslos. Sie denken, sie empfinden Sehnsucht nach ihrem Heimatland, wobei es nur die Sehnsucht ihrer Eltern ist, die sie in sich tragen. Ich habe vorher schon erwähnt, man muss ihnen sagen, dass es ok ist, wie sie sind, dass es ok ist, dass sie sich manchmal zerrissen fühlen. Dass es ok ist, wenn sie sagen, dass sie sich in Deutschland wohlfühlen, dass es ok ist, zuzugeben, Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund zu sein - sofern man den deutschen Pass natürlich hat, viele haben den ja mittlerweile. Man liebt die Türkei doch nicht weniger, wenn man das sagt. Ich bin Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund, Deutschland ist meine Heimat, aber nicht die Heimat meiner Eltern. Deshalb sind sie vor vier Jahren zurück in die Türkei. Sie kamen als Gastarbeiter. Ich könnte mich also als Gastarbeiterkind betrachten. Will ich aber nicht. Ich sehe mich nicht als Gastarbeiterkind, nicht als Migrantin, sondern Bürgerin Deutschlands, die hin und wieder, mit großer Leidenschaft, ihre Eltern und deren Heimatland besucht. (ZmS)