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Bleibender Eindruck: Bettler für eine Stunde

Einige Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums in Reutlingen mussten im Selbstversuch nach Pfandflaschen suchen, um am eigenen Leib zu erfahren, was es bedeutet arm zu sein. Das kostete ziemlich viel Überwindung

Viele Menschen in Deutschland müssen in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, um überhaupt etwas Geld zu haben.  FOTO: DPA
Viele Menschen in Deutschland müssen in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, um überhaupt etwas Geld zu haben. FOTO: DPA
Viele Menschen in Deutschland müssen in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, um überhaupt etwas Geld zu haben. FOTO: DPA
REUTLINGEN. Kann man vom Pfandflaschensammeln leben? Dies galt es für Schüler der Klasse 10 c des Albert-Einstein-Gymnasiums Reutlingen in Form eines Schülerexperimentes herauszufinden. Es kostete viel Überwindung in den ersten Mülleimer zu greifen. Besonders unangenehm waren die Blicke der Passanten, die von Erstauntheit über Ekel bis hin zu Spott gingen. Das Komische dabei: Nicht das Wühlen in Mülltonnen nach Flaschen, sondern die Blicke der Mitmenschen ertragen zu müssen. Es ist nahezu unmöglich vom Pfandflaschensammeln zu leben, da die meisten Menschen ihr Pfand selbst zurückbringen.

Allein 10,7 Millionen Deutsche werden von Armut bedroht, darunter etwa 1,7 Millionen Kinder unter 16 Jahren. Aber ab wann zählt man in Deutschland zu den Armen? Bei einem Einkommen unter 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens gilt man in Deutschland als arm. Es wird erst deutlich, wie schwer das Leben in Armut ist, wenn man versucht es selbst nachzuempfinden.

Obwohl sich die Schüler zuerst über die Aufgabe gewundert haben, war es letztendlich doch eine gute Erfahrung.

Von Tim Lude und Christan Werner

Im Jahr 2010 galten 1 909 Menschen im Kreis Reutlingen als arm und waren auf die Grundsicherung angewiesen. Doch wie fühlt sich das an? Auf der Suche nach Pfandflaschen begegneten die Schüler vielen verständnislosen und abweisenden Gesichtern. Auf die Frage, wie Menschen im Alltag mit der unteren Gesellschaftsschicht umgehen, bekamen die Schüler meist keine Antwort oder trafen auf Unverständnis. Ihnen wurde schnell klar, dass es sehr schwierig ist, als armutsgefährdeter Mensch ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Kälte, die Blicke der anderen, sie Hoffnungslosigkeit ließ die Schüler zu anderen Menschen werden. Sie begriffen, dass solche Menschen eigentlich keine Möglichkeit haben, in die normale Gesellschaft eingegliedert zu werden. Denn die Ausgrenzung, die Vorurteile und die Intoleranz, die man ungesagt verspürt und die die Reutlinger Bürger teilweise haben, lässt ihnen keine Chance dazu. Es kostete die Klasse viel Überwindung, in Mülleimern nachzuschauen oder im Gebüsch nach Pfandflaschen zu wühlen. Man muss seinen Stolz verlieren, sagte einer der Schüler. Nach dieser Erfahrung sind sich die Schüler einig und froh, wieder sie selbst zu sein. Jedoch sehen sie die Armen mit anderen Augen.

Von Anika Nehls & Madeleine Saur

Obdachlose findet man in jeder Stadt. Obwohl sie allgegenwärtig sind, schenken ihnen die meisten Menschen keine Aufmerksamkeit; nur wenige machen sich Gedanken über deren Lebensbedingungen. Beim Pfandflaschen-Suchen realisierten die Schüler schnell wie demütigend es ist, sein Geld auf diese Weise zu verdienen. Da die Flaschen meist im Gebüsch oder in Mülleimern lagen, fielen die Schüler stark auf und ernteten abwertende Blicke der Passanten. Anfangs schämten sie sich noch die Flaschen einzusammeln, doch nach einiger Zeit ignorierten sie die Blicke und sammelten jede Flasche auf. Bei der Rückgabe der

Flaschen stellte sich heraus, dass der Großteil kein Pfand gab. Nach einer Stunde intensiver Suche hatten die Schüler zu viert gerade einmal 1,44 Euro verdient. Daran erkennt man wie schwer es ist zu überleben, wenn man wirklich auf dieses Geld angewiesen ist. Auch wenn es für die Schüler ein realitätsfernes Experiment war, ist es für viele der Armutsgefährdeten in Deutschland eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle.

Von Katrin Martin und Tobias Blumenstengel

Anfangs waren wir beim Suchen sehr oberflächlich, denn Lust im Müll zu kramen hatten wir (trotz Handschuhen) eher weniger. Am Tübinger Tor suchten wir die Gebüsche, die Wiese und die Mülleimer ab. Obwohl am Wasser einige Jugendliche saßen und uns beobachtet haben, haben wir uns mit vollem Körpereinsatz (die meisten Flaschen lagen im Gebüsch) auf die Suche gemacht. Da die Jungs natürlich auch nachgefragt haben, was wir so machen, habe ich erfahren, dass eine Bierflasche 8 Cent Pfand gibt.

Beim ZOB haben wir abwertende Blicke der Wartenden zu spüren bekommen. Ein Mal hat uns ein etwa zehn- bis zwölfjähriger Junge »Ihr Müllsammler!« hinterher geschrien. Das fand ich unhöflich und unangebracht, in diesem Augenblick habe ich mich gefühlt wie eine Obdachlose. Beim Bahnhof war schon vor uns jemand - dort waren sehr wenige Flaschen zu finden. Aber immerhin: Am Ende war unsere Tasche gefüllt mit Pfandflaschen. Ob es überhaupt Pfandflaschen waren, haben wir zwischendurch eine ältere Frau gefragt, die uns geholfen hat die Pfandflaschen von den »Nicht-Pfandflaschen« zu trennen.

Welches Fazit ziehe ich aus dieser Sache? Erstens hoffe ich, dass ich nie in die Situation kommen werde, so wenig Geld zu besitzen, um mir mit dem Flaschensammeln etwas dazuverdienen zu müssen. Denn ich empfand es als demütigend. Unser Stundenlohn betrug nur 1,44 Euro. Zweitens werde ich alle meine Pfandflaschen ab jetzt neben den Mülleimer stellen - um den Flaschensammlern das »Müllwühlen« zu ersparen. Drittens werde ich Flaschensammler nicht doof von der Seite anschauen, immerhin sammeln sie den Müll unser Wohlstandsgesellschaft auf, tragen dadurch zum Umweltschutz bei, und haben noch einen Nutzen davon. Was soll daran falsch sein? Viertens arbeiten die Pfandflaschensammler viel für einen unglaublich schlechten Stundenlohn und werden dafür von der Gesellschaft verachtet. Ich finde vor diesen Menschen sollte man Respekt haben, dass sie sich nicht zu schade für ihre »Arbeit« sind.

Von Katrin Martin