Logo
Aktuell Zeitung macht Schule

Bilder, die langsam verblassen

TÜBINGEN. Verschiedene Familien sitzen im Freien, plaudernd, fröhlich und doch nachdenklich. Hin und wieder sieht man Tränen in den Augen. Man sieht es deutlich: Die Leute, die da sitzen sind einfache Leute, die sich für dieses Ereignis herausgeputzt haben. Ein alter Mann geht von Familie zu Familie, redet mit allen und geht dann weiter. Nach einiger Zeit singen alle miteinander »Nun danket alle Gott«. Und sie meinen es ernst, was sie da singen, jeder merkt es.

Was vom Schloss Schlobitten übrig blieb. ZmS-Reporter Jonathan Schilling hat das Bild im August dieses Jahres selber in Ostpreuß
Was vom Schloss Schlobitten übrig blieb. ZmS-Reporter Jonathan Schilling hat das Bild im August dieses Jahres selber in Ostpreußen gemacht. FOTOS: ZMS
Was vom Schloss Schlobitten übrig blieb. ZmS-Reporter Jonathan Schilling hat das Bild im August dieses Jahres selber in Ostpreußen gemacht. FOTOS: ZMS
So oder so ähnlich dürfte es wohl bei einem der »Treffen von Schlobittern« ausgesehen haben, wie sie Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten abgehalten hat, nachdem er im Jahre 1945 mit sämtlichen Einwohnern der Besitzung Schlobitten in Ostpreußen geflohen ist. Der vor wenigen Jahren verstorbene Adlige, ein Patenkind Kaiser Wilhelms II, würde am 11. Dezember dieses Jahres seinen 109. Geburtstag begehen.

Während heute der Adel vor allem in Verbindung mit Skandalen und Intrigen in den Boulevardzeitungen vorkommt, kann man den 1899 geborenen Fürsten damit Dohna überhaupt nicht in Verbindung bringen. Es bestand, wie er in seiner Autobiographie (Autobiografie Info-Box) beschreibt, ein »uraltes Vertrauensverhältnis zwischen den Leuten und [ihm]«. So kam bald nach seiner Hochzeit mit Antoinette von Arnim, einer Nachfahrin des Fürsten Pückler, eine etwa 40-Jährige aus dem zum Schloss gehörigen Dorf und bat die zwanzig Jahre jüngere Gutsherrin um Rat mit den Worten: »Sie können mir helfen, denn Sie sind unsere Mutter und wir sind alle Ihre Kinder«.

Unlängst wurden neue Erkenntnisse über die Flucht von Marion Gräfin Dönhoff, deren 100. Geburtstag sich im nächsten Jahr jährt, veröffentlicht. Demnach floh sie allein mit ihrer Cousine Sisi Lehndorff, ohne sich um ihr Dorf zu kümmern. Offenbar hatte sie große Angst. Alexander Dohna hingegen wollte von einer Flucht allein nichts wissen. Als er im Sommer 1944 sah, dass der Krieg für Deutschland verloren sein würde, bereitete er eine Flucht für über 350 Personen vor, die jeden in der Besitzung Schlobitten in den sichereren Westen mitnehmen sollte.

Bis ins kleinste Detail sorgte er für Quartiere, berücksichtigte unsichere Streckenteile, benachrichtigte Verwandte und Bekannte und zeichnete die gesamte Fluchtroute in Karten ein. Zu Gräfin Dönhoffs Ehre muss jedoch gesagt werden, dass sie ihrem Nachbar Dohna bei seinen Vorbereitungen hilfreich zur Seite stand und mit ihm die Flucht überdachte.

Am 22. Januar 1945 schließlich konnte Dohna an seine Frau, die schon vorher mit den sechs Kindern in Richtung Westen gegangen war, telegrafieren: »Habe alles verlassen +++ Trecke westwärts mit allen Leuten«. Drei Monate lang war der Adlige mit über 300 Flüchtlingen aus seiner Besitzung, 140 Pferden und 38 Wagen auf einer Strecke von mehr als 1 500 Kilometern unterwegs. Es war der größte Treck, der in diesem Jahr in den Westen gelangt war.

Dieser Leidenszug bedeutete nicht nur den Verlust der Heimat, sondern auch den Verlust des seit mehr als 400 Jahren mit ihm verwachsenen Besitzes. Dohna erinnerte sich später: »Das auf meinem Trauring eingravierte Stoßgebet «Gott gebe Gnade» hat mich auf diesem gefahrvollen, seelisch und körperlich belastenden Zug durch Deutschland begleitet und Gottes Gnade ist und allen zuteilgeworden.«

Bei der Auflösung des Trecks kam dann die unausweichliche Trennung von den Schlobitter Familien. Doch mit dem Ende des Trecks ging keineswegs die Verbundenheit Dohnas mit seinen Leuten verloren. Über fast ein halbes Jahrtausend hatten die Dohnas die Verantwortung über diese Leute, und dieses Verhältnis sollte nicht einfach aufhören. Alle zwei Jahre trafen sich die Geflohenen dort, wo der Treck am 20. Mai 1945 angekommen war: in Hoya, südlich von Bremen, zu einem »Treffen von Schlobittern«. Zu diesen Versammlungen kamen bis zu 250 Schlobitter zusammen.

Ein paar Mal kam auch einer der Bauern, bei dem einige der Flüchtlinge untergekommen waren. Auf die Frage hin, warum er an einem solchen Treffen teilnehme, erwiderte er: »Ich möchte den Herrn sehen, der noch nach Jahrzehnten mit seinen früheren Mitarbeitern zusammenkommt«. Bis zu seinem Tode 1990 verschickte der Fürst Jahr für Jahr einen Weihnachtsbrief an alle seine früheren Untergebenen.

Es spricht für sich (und für Alexander), dass sich fünfundzwanzig ehemalige französische Zwangsarbeiter des Hofes Schlobitten nach Kriegsende jährlich trafen, um der schönen Zeit - als Zwangsarbeiter, man bedenke! - in Schlobitten zu gedenken. Als Alexander sie 1985 durch das Rote Kreuz ausfindig machen konnte, lud er sie von da an zu seinen Schlobittertreffen ein.

Alexander ging nach dem Krieg in die Schweiz, bis er nach zehnjähriger Arbeitszeit bei der Firma »Hoffmann LaRoche« eine eigene chemische Reinigung in Lörrach Südbaden gründete.

Durch eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland kam der Fürst auf die Idee, nach Polen, wo Schlobitten heute liegt, zu gehen. Nicht nur, um die alte Heimat wiederzusehen und Einzelheiten über den Zustand des Ortes zu erhalten, sondern auch, um Brücken zu schlagen und zur deutsch-polnischen Verständigung beizutragen. Allein in den Siebziger- und Achtzigerjahren reiste er mit seiner Frau und seinen Kindern und Enkelkindern elfmal nach Schlobitten.

»Das Schloss ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt«, schreibt er. Der heutige Besucher steht noch vor den Grundmauern des einstmaligen Zentrums höfischen Lebens in Ostpreußen. Hier und da ragen noch Stromkabel aus den unverputzten, backsteinernen Mauern heraus, sie führen ins Nichts. Im ehemaligen Schlosspark haben Arbeitslose ihr Lager aufgeschlagen, auf zahlende Touristen wartend. Das Inventar des Schlosses - eines der kunsthistorisch bedeutendsten Schlösser in Europa - wurde größtenteils von den Russen gestohlen, jedoch nicht etwa, um es zu verwenden, sondern lediglich um es zu zerstören. Eine kleine Ausstellung im Berliner Schloss Charlottenburg birgt die letzten Einrichtungsgegenstände, die nicht zertrampelt oder verbrannt worden waren.

Aus der Zerstörungswut der Russen könnte man fälschlicherweise schließen, dass es sich bei Alexander um einen eingefleischten Nationalsozialisten gehandelt haben könnte. Mitnichten! Vielmehr war er ein Mann, der aktiv am Widerstand gegen Hitler beteiligt war und ständig in Lebensgefahr schwebte. Die Zerstörung ist der Preis dafür, was die Deutschen in Russland angerichtet hatten. Nein, nicht »die Deutschen«, nicht Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten, sondern viele Deutsche, die für einen Führer kämpften, der sie glauben machte, sie kämpften für das Vaterland, doch letztendlich kämpften sie gegen das Vaterland.

Nach einigem Reden, nach einem gemeinsamen Zusammensein, nach dem gemeinsamen Singen von »Nun danket alle Gott«, was sich in Anlehnung an das ostpreußische Erntefest schon fest etabliert hat, nach einem erneuten »Treffen von Schlobittern«, fahren immer mehr Autos wieder weg, gehen immer mehr der Festgäste. Zurück bleibt ein alter Mann, ein Ostpreuße, ein Fürst, der dem Adel alle Ehre macht, der seinen Namen mit Würde trägt.

Zurück bleibt an einem anderen Ort ein jahrhundertealtes Schloss, immer mehr dem Verfall ausgesetzt, bis es einmal vergessen ist. Vergessen, bis einmal ein paar Backsteine im Gestrüpp das Letzte sind, was noch an die glanzvollen Zeiten in Ostpreußen erinnert, in einer Welt, die nie wieder so existieren wird. Im Land der dunklen Wälder und kristallenen Seen. Einst die Heimat eines großen Mannes, die Heimat von Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten. (ZmS)



Jonathan Schilling, Wildermuth-Gymnasium Tübingen, Klasse 9 a