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Bange Stunden auf dem Meer

Abdolsatar war sechs Jahre alt, als er mit seiner Familie zu einer Flucht aufbrach, die dreieinhalb Monate dauern sollte

In waghalsigen Aktionen werden Flüchtlinge übers Mittelmeer gebracht. FOTO: DPA
In waghalsigen Aktionen werden Flüchtlinge übers Mittelmeer gebracht. FOTO: DPA
In waghalsigen Aktionen werden Flüchtlinge übers Mittelmeer gebracht. FOTO: DPA

REUTLINGEN. In der dritten Nacht ist das Wetter sehr unruhig, stürmisch und regnerisch. Plötzlich bewegt sich das Schiff nicht mehr und das Meer schubst das Schiff hin und her. Es riecht nach Rauch. Alle geraten im Panik! Wo ich bin? Seit sechs Tagen befinde ich mich mit 113 Menschen auf einem Fischerboot irgendwo im Mittelmeer. Wie es dazu kam, möchte ich jetzt berichten.

Ich wurde im Iran geboren, meine Eltern stammen aus Afghanistan. Sie verbrachten ihre Jugendzeit im Iran und haben sich auch dort kennengelernt und schließlich geheiratet. Später wurden wir drei Geschwister geboren. Ich habe einen großen Bruder (19 Jahre) und eine Schwester (16 Jahre). Ich bin 14 Jahre und das jüngste Kind. Als ich den Iran verließ, war ich sechs Jahre alt. Eigentlich hätte ich gerade die erste Klasse besuchen sollen, darauf hatte ich mich sehr gefreut.

Aber plötzlich beschlossen meine Eltern, nach Deutschland zu gehen, weil sie politische Probleme bekamen. Meine Eltern verkauften unsere ganzen Möbel und den Schmuck meiner Mutter, um etwas Geld aufzutreiben, um damit den Schleuser zu bezahlen, der von meinem Vater viel Geld verlangte. Er versprach meinen Eltern, dass wir eine angenehme Reise hätten und keine Probleme bekommen würden.

»Meine Mutter befürchtete, dass ich in die Schlucht gefallen war«

Der Tag der Anreise brach an. Meine Familie, ein Freund meines Vaters mit seinen vier Kindern und seiner Frau, starteten die Reise. Die Schleuser arbeiteten zusammen und übergaben uns in jedem neuen Gebiet an jemand anderen.

Es war ein gefährlicher Weg. Wir liefen auf engen Trampelpfaden, direkt neben uns ging es tief eine Schlucht hinab. Hätten wir nicht aufgepasst, wären wir abgestürzt. Meine Mutter, die starkes Asthma hatte, fiel in Ohnmacht. Mein Vater, der zwei Rucksäcke trug, kümmerte sich um meine Mutter. Der Freund meines Vaters hielt meine Hand fest und schleppte mich weiter. Da ich noch klein war, wurde ich schnell müde. Wir hatten uns zu weit von meinen Eltern entfernt.

Als meine Mutter zu sich kam, konnte sie mich nicht sehen und geriet in Panik. Sie befürchtete, dass ich in die Schlucht gefallen sein könnte. Der Schleuser sagte ihr, dass es keinen Sinn machen würde, nach mir zu suchen. Er sagte ihr, dass sie weiter laufen solle, sonst würden wir von der Grenzpolizei geschnappt. Als mich meine Mutter wieder sah, freute sie sich.

Bis wir an die türkische Grenze kamen, dauerte es neun Stunden, wir liefen über zwei hohe Berge. Wir marschierten um zwei Uhr nachts los und um zehn Uhr morgens waren wir in der Türkei.

Dort blieben wir 43 Tage in einer kleinen Wohnung mit vier anderen Familien. Die Wohnung hatte nur ein Klo, dort sollten wir uns auch waschen. Außerdem bekamen wir nur einmal am Tag etwas zu essen. Die Kinder durften draußen spielen, die Erwachsenen mussten sich verstecken, da wir dort illegal wohnten. Nach 43 Tagen rief der Schleuser an und sagte, dass wir uns bereit machen müssen, weil wir auf die Halbinsel Izmir fahren werden. Dort sollte ein dreistöckiges Reiseschiff auf uns warten und jede Familie sollte eine eigene Kabine bekommen.

Der Abend war da. Wir wurden von einem kleinen Transportauto abgeholt. Da wir mehr als 30 Leute waren, saßen wir aufeinander. Die Fahrt dauerte sechs Stunden. Als wir nahe der Halbinsel waren, stiegen wir aus. Dann liefen wir über landwirtschaftliche Flächen, die voll mit Dornen und Büschen waren. Da ich eine kurze Hose trug, waren meine ganzen Beine voller Stachel und blutig, aber ich durfte mich nicht beschweren, weil uns niemand bemerken durfte. Als wir ankamen, war es bereits fünf Uhr morgens.      Wir mussten die Nacht dort bleiben. Es war sehr kalt. Wir hatten keine warmen Sachen zum Anziehen. Alle zitterten, bis die Sonne aufging. Bis zum Mittag wurde es sehr heiß, wir hatten nichts zum Essen oder Trinken. Wir mussten durchhalten, bis es wieder dunkler wurde und die Kälte zurückkam.

Um zwei Uhr nachts sollten wir in ein Schiff einsteigen. Allerdings war das nicht leicht, weil das Schiff weit draußen im Meer war und die Lichter ausgeschaltet hatte. Man musste bis zum Hals ins Wasser und dann mit einer Leiter einsteigen.

113 Leute schafften es, in das Schiff einzusteigen. Es war kein dreistöckiges Reiseschiff, sondern ein Fischerboot. Wir wurden dort untergebracht, wo normalerweise die Fische liegen. Uns wurde gesagt, dass die Schifffahrt nach Italien nur drei Tage dauern würde, aber auch das war nicht die Wahrheit. Die Fahrt dauerte sechs Tage. Wir hatten nur wenig zum Essen und Trinken. Außerdem hatte niemand Appetit, da wir seekrank wurden. Es war schrecklich, weil man weit und breit kein Land um sich sah.

»Es passierte ein Wunder: Einer der Flüchtlinge war Mechatroniker«

In der dritten Nacht war das Wetter sehr unruhig. Plötzlich bewegte sich das Schiff nicht mehr. Als das alle mitbekamen, gerieten sie in Panik. Der Co-Kapitän sagte uns, dass einer der Motoren brannte und er nichts machen könnte. Aber es passierte ein Wunder: Einer der Flüchtlinge war Mechatroniker und versuchte, den Motor zu reparieren. Es klappte!

Nach sechs Tagen ohne Hoffnung sahen wir endlich eine Insel von Italien. Wir legten dort an und das Schiff wurde vom Radar erkannt. Deswegen warteten an Land die Polizei und Krankenwagen auf uns und brachten uns zu einer Sporthalle. Dort wurden wir medizinisch versorgt. In der Halle trafen wir sehr nette Leute, die uns sehr halfen. Nach 21 Tagen ließen sie uns weiterreisen.

Wir kauften eine Fahrkarte und fuhren nach Paris. Von dort aus setzten wir unsere Reise fort und kamen mit dem Zug in Frankfurt an. Dort wurden wir dann der Polizei übergeben. Sie schickte uns nach Karlsruhe. Dort waren wir zwei Monate lang in einer Asylunterkunft. Schließlich kamen wir am 12. Dezember 2012 nach Reutlingen.

Dies war eine Zusammenfassung meiner dreieinhalbmonatigen Flucht nach Deutschland. Mittlerweile freue ich mich, dass ich hier bin und neue Freunde gefunden habe und glücklich bin. Die erste Person, die mir und meiner Familie half, heißt Boni Schörle. Er half uns unter anderem bei den Hausaufgaben und mit der Sprache. Er war, ist und bleibt immer ein guter Freund. (ZmS)Abdolsatar Borhani, Eichendorff-Realschule Reutlingen, Klasse 7c