Seit Jahren wird in Pfullingen die Legende weiter gereicht, der große Dichter Paul Celan habe sein bedeutendes Gedicht »Sprachgitter« den Trümmerresten des Pfullinger Klosters zu verdanken.
In zahllosen Führungen und Vorträgen im Klostergarten und in der Neske-Bibliothek, neuerdings im Buch »Impulse zur Eröffnung des neuen Kulturhauses – Kontrafakturen« von Georg Tetmeyer (Besprechung im GEA am 28. Juni 24) erzählen schätzenswerte lokale Kulturinteressierte diese Geschichte: Der Verleger Neske habe durch eine Ansichtskarte vom Pfullinger »Sprechgitter«, die er an Celan schickte, diesen zu seinem Gedicht »inspiriert«, sodass der Dichter es »über das seit 1250 erhaltene Sprechgitter (...) in Pfullingen« geschrieben hätte und »wir in Pfullingen« dieses Werk nun »haben«, als ein »Pfullinger Gedicht« (so, entsprechend dem hiesigen Tenor, Tetmeyer). Diese Erzählung ist leider falsch, weil das Gedicht schon existierte, als Neske seine Karte schrieb. Es wäre endlich an der Zeit, sich in dieser Sache ehrlich zu machen.
Spätestens seit 2019 Celans Briefe erschienen sind, ist eindeutig klar und könnte jeder, der sich für Celan über das Lokale hinaus interessiert, wissen: »Sprachgitter« war am 2. Mai 1957 bereits fertig, sechs Wochen, bevor der Dichter die Karte Neskes erhielt (Paul Celan, Briefe, S. 999). Diese war also offensichtlich nur gedacht als bloße Reaktion auf den Titel, der dem Verleger bekannt geworden war: Schau, auch wir in Pfullingen haben ein Sprechgitter – die Reste eines Klarissenklosters, wie es sie in über 70 Orten allein in Deutschland gibt.
Wo Celan die wirkliche, tatsächlich bewegende Anregung für sein Gedicht erhielt – darauf hatte bereits 1995 John Felstiner in seiner (1997 auf Deutsch erschienenen) Biografie hingewiesen (Seite 147f.): Paul Celan besuchte 1957 zusammen mit seiner Frau Gisèles Lestrange deren Mutter, die sich verwitwet in ein Klarissenkloster zurückgezogen hatte, und sie, die zum jüdischen Schwiegersohn kein gutes Verhältnis hatte und die Verbindung ihrer Tochter mit ihm ablehnte, saß den beiden nun hinter einem Sprechgitter gegenüber. Man schaue nun nochmals in das Gedicht! Dies ist die persönliche Geschichte hinter dem Poem. Dass es selbstverständlich allgemeinere Bedeutung hat, mag dem Dichter durch Neskes Karte bestätigt worden sein, genau wie zur gleichen Zeit durch eine Textstelle bei Jean Paul, die Celan anstreicht, weil hier von »Sprachgittern« die Rede ist. Die Pfullinger mögen weiter das Gedicht vor ihrem Sprechgitter rezitieren, auf die Legende aber verzichten.
Wilfried Bachhofen, Münsingen