Düstere Wolken am Konjunkturhimmel, trübe Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung. Reflexartig werden altbekannte Forderungen laut: Schluss mit sozialen Wohltaten und Projekten, Schluss mit der Umverteilung von oben nach unten. Stattdessen: Investieren in die Infrastruktur. Für IHK-Chef Erbe sind das die notwendigen Konsequenzen aus dem zurückgehenden Konsumklimaindex.
Das Soziale – so die Botschaft – das muss man sich leisten können. Das Soziale ist das, wo man als Erstes sparen muss. Zugunsten notwendiger Investitionen in die Infrastruktur. Keine Frage, unsere Infrastruktur – man denke an die marode Bahn oder das lahme Internet – hat hohen Investitionsbedarf. Und ja, es gibt soziale Projekte oder soziale Wohltaten, die wenig Wirkung zeigen und zu hinterfragen sind.
Das Problem aber hinter dieser altbekannten Forderung, als Erstes im sozialen Bereich zu sparen, ist freilich grundsätzlicher Natur: Welche Vorstellung einer guten Infrastruktur und welches Verständnis von sozialer Arbeit haben wir? Gehört zu einer guten Infrastruktur nicht mehr als ein gutes Straßen- und Schienennetz, mehr als schnelles Internet? Brauchen wir nicht genauso eine gute soziale Infrastruktur, so wie das auch im Grundgesetz (§ 20) verankert ist? Was würde denn ohne eine gute Pflegeinfrastruktur passieren? Wie viele Arbeitnehmer müssten beruflich deutlich kürzertreten, wenn sie die Pflege ihrer Angehörigen alleine bewältigen müssten?
Keine gute Option für die Wirtschaft, wenn jedes zweite Unternehmen nach wie vor über Fachkräftemangel klagt. Bei der frühkindlichen Bildung ist es nicht viel anders. Und wie sind die Aktivitäten der verschiedenen sozialen Träger zur Integration von Migranten, ob mit oder ohne Fluchthintergrund, zu bewerten? Als verzichtbare soziale Wohltat? Gerade international ausgerichtete Firmen sind darauf angewiesen, dass ausländische Fachkräfte und solche, die es werden wollen, gerne nach Deutschland kommen. Längst wissen wir, dass das Erstarken der AfD und deren Radikalisierung nicht nur in Sachsen dem Standort massiv schadet.
Wer die AfD-Anfrage über die Zahlen und Kosten der Flüchtlingshilfe in Reutlingen gelesen hat, der muss nicht lange überlegen, wozu das dienen soll. Zu billiger Stimmungsmache. Angesichts von etwa 80 Prozent Migranten in unseren Pflegeschulen sollten sich AfD-Wähler oder -Sympathisanten aber fragen, ob sie denn schon einmal darüber nachgedacht haben, wer sie später im Alter pflegen wird. Wir können nicht einseitig von der Globalisierung als Exportnation profitieren und gleichzeitig Migration ablehnen. Wir können nicht trotzig unseren Wohlstand und den damit verbundenen Ressourcenverbrauch verteidigen und die Augen vor der wachsenden Zahl von Klimaflüchtlingen verschließen.
Ganz abgesehen davon muss man sich auch fragen, ob die starke Exportorientierung unserer Wirtschaft auf Dauer nicht mit erheblichen Risiken verbunden ist. Zeigen nicht die skandinavischen Länder, dass es einer Gesellschaft auch ohne große Exportüberschüsse gut gehen kann? Eben weil man viel in eine gute soziale Infrastruktur investiert. Geld, das im Land bleibt, von dem Steuern, Sozialversicherungen und Konsumausgaben bestritten werden.
Deshalb, liebe Verantwortliche in den Unternehmen und Verbänden: Lassen Sie uns gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen diskutieren, welche Investitionen nötig sind, damit unser Land mit seinen ganz unterschiedlichen Menschen eine gute Zukunft hat.
Dr. Joachim Rückle, Geschäftsführer Diakonieverband, Reutlingen