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Aktuell Einsamkeit

Wie viele Likes ersetzen eine Umarmung?

Wir sind mit mehr Menschen in Kontakt denn je: Soziale Netzwerke verbinden Menschen weltweit. Doch hilft das gegen Einsamkeit? Telefonseelsorger machen die Erfahrung: eher im Gegenteil.

Telefonseelsorge
Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der evangelischen Telefonseelsorge im Telefonat. Foto: Tobias Hase/Archiv
Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der evangelischen Telefonseelsorge im Telefonat. Foto: Tobias Hase/Archiv

STUTTGART. Einsamkeit ist eines der bestimmenden Themen bei der Telefonseelsorge - auch bei jungen Menschen. »Die sozialen Medien suggerieren zwar eine hohe Vernetzung, aber emotionale Stabilität, die bieten sie oft nicht«, erklärt die Leiterin der evangelischen Telefonseelsorge Stuttgart, Martina Rudolph-Zeller, am Mittwoch. Online sei es eher eine Selfie-Show: »Ich zeig' meine Schokoladenseite, ich berichte von meinen Erfolgen und wie toll das alles ist. Aber wo geht man denn hin mit seiner Not?«

Der Druck zur Selbstoptimierung steige - Platz für Konflikte, Ängste, Depressionen gebe es nicht, so Rudolph-Zeller. Zum Beispiel der Umzug in eine fremde Stadt: Für junge Menschen ist das zu Beginn von Studium oder Ausbildung eine Herausforderung, die nicht mühelos gelinge. Oft können sie - trotz zahlreicher Kontakte mit Kommilitonen - über solche Krisen mit niemandem offen sprechen.

Alleinsein und Einsamkeit seien zwei verschiedene Dinge, betont die Psychologin Sonia Lippke, die an der Jacobs University Bremen zu Einsamkeit forscht. Es sei ein subjektives Gefühl und mit Leidensdruck verbunden: »Betroffene vermissen jemanden, der sie richtig versteht und für sie da ist.« Entsprechend können sich auch Menschen in Paarbeziehungen einsam fühlen.

Eine Vielzahl der Menschen leidet laut Lippke darunter: »Schätzungen gehen zwischen einer von zehn bis einer von sechs aus.« Dabei gebe es drei Lebensphasen, in denen das Risiko, an Einsamkeit zu leiden, hoch ist - nämlich in Zeiten des Umbruchs: »Wenn man zu Hause auszieht, also in den Zwanzigern, und nach neuen sozialen Gefügen sucht«. Dann wieder zwischen Mitte 40 bis Mitte 50, wenn »typischerweise diejenigen, die Kinder haben, dann erleben, dass die sich abnabeln und zu Hause ausziehen«.

Zuletzt sei das Risiko für alte Menschen hoch. »Da gibt es dann jenseits der 85 auch Studien, die zeigen, dass jeder zweite sich eigentlich einsam fühlt«, erklärt Lippke. Das hänge aber sehr stark mit gesundheitlichen Einschränkungen zusammen, »zum Beispiel, dass die Menschen dann nicht mehr so richtig sehen und hören können und sich nicht mehr so richtig raus trauen«.

Einsamkeit sei durch die Altersgruppen hinweg eines der bestimmenden Themen in der Telefonseelsorge, sagt der stellvertretende Leiter der katholischen Stelle Ruf und Rat, Bernd Müller. Jeder fünfte von rund 37 000 Männern und Frauen habe 2018 angegeben: »Ich bin einsam«, wie aus den Jahresberichten der beiden Stuttgarter Stellen hervorgeht. Einsamkeit sei aber für viel mehr Anrufe der Ur-Grund - »sie heißt dann nur oft anders«. Auch hinter Heimweh, Liebeskummer oder Depression stecke oft das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Müller bezweifelt, dass der Austausch über soziale Medien mit echten Treffen vergleichbar ist: »Wie viele Likes brauche ich, um eine Umarmung zu ersetzen? Oder einen Blick in offene Augen?«

Eine Studie der University of Pittsburgh im US-Staat Pennsylvania aus dem Jahr 2017 kam zu dem Ergebnis: Je mehr Zeit junge Erwachsene in sozialen Medien verbringen, umso eher fühlen sie sich einsam. Die Forscher analysierten die Aktivität von 1787 US-Bürgern zwischen 19 und 32 Jahren auf elf beliebten Plattformen, darunter Facebook, Youtube, Twitter und Instagram. Ergebnis: Teilnehmer, die sich mehr als zwei Stunden am Tag in sozialen Netzwerken bewegten, hatten eine verdoppelte Wahrscheinlichkeit, sich sozial isoliert zu fühlen.

Der 34-jährige Christian Fein hat Twitter genutzt, um nicht mehr einsam zu sein. Nach der Trennung von seiner Partnerin habe ein Weihnachten allein in der großen Wohnung bevorgestanden. Also vernetzte er 2016 erstmals mit dem Hashtag #KeinerTwittertAllein Leidensgenossen, die Gedanken austauschen konnten oder sich sogar verabredeten: »In Karlsruhe hat ein Herr gleich 21 Leute aufgenommen.« In der Folge wurde daraus #KeinerBleibtAllein - das Projekt will Einsamkeit nicht nur an Weihnachten bekämpfen.

Das Online-Portal »Neu in Stuttgart« soll Menschen helfen, in der für sie fremden Stadt Anschluss zu finden. »Wir sind ein Interessenportal für Menschen jeden Alters«, erklärt Betreiber Peter Riedel. Nutzer können sich zum Wandern, Tanzen und zu Kochabenden verabreden oder einen Partner suchen. Die am meisten genutzte Kategorie ist Riedel zufolge »Neue Freunde finden«.

Auch bei der Telefonseelsorge kommen die Hilfegesuche mittlerweile über verschiedene Kanäle an. 2018 haben die beiden Stuttgarter Stellen 992 Chatberatungen durchgeführt, 136 Ratsuchende wurden in teils längeren Mailverläufen begleitet - im Vergleich zu Anrufen seien die Zahlen gering, aber stiegen stetig. Psychologin Lippke sieht die neuen Medien als Brücke. »Zum Beispiel, wenn der Enkel seine Oma über Skype sieht.« Sie rät aber - wenn man sich dann mal wieder real trifft - Skype, WhatsApp oder Facebook abzuschalten: »Dass man wirklich in der Situation miteinander ist«. (dpa)

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