Eine Fahrerflucht, ein Nacktfoto im Schülerchat, ein Ladendiebstahl oder eine schwere Prügelei: Alles steht schwarz auf weiß in den Akten, nur die Täter sind noch nicht verurteilt, falsch verdächtigte andere Menschen noch nicht freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt. Denn ihr Fall schlummert irgendwo dort in dem Berg aus Akten, der sich mit vielen anderen in den Zimmern der baden-württembergischen Staatsanwälte auftürmt. Denn bei den Staatsanwaltschaften staut sich die Arbeit, die Zahl unerledigter Fälle nimmt Tag für Tag zu.
Zum Stichtag Ende Juni nahm die Zahl der unerledigten Ermittlungsverfahren in Baden-Württemberg im Vergleich zum Stand vor zwei Jahren um satte 31 Prozent zu. Insgesamt mehr als 75.800 Fälle sind noch offen, vor zwei Jahren waren es knapp 58.000.
Bundesweit am schnellsten wuchs der Stapel der Strafakten in Hamburg: In der Hansestadt waren laut Richterbund im Juni rund 36.000 Ermittlungsverfahren anhängig - 57 Prozent mehr als vor zwei Jahren. In ganz Deutschland melden die Ermittlungsbehörden insgesamt fast 850.000 offene Verfahren, ein Anstieg um 28 Prozent.
Insgesamt habe es 2022 mehr als 5,2 Millionen neue Fälle bei den Staatsanwaltschaften gegeben, erklärt Sven Rebehn, der Bundesgeschäftsführer des Richterbundes, in dem auch die Staatsanwälte organisiert sind. Das sei neuer Rekord.
Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Der Trend hat sich im ersten Halbjahr dieses Jahres in Baden-Württemberg nochmals deutlich verschärft, wie eine Sprecherin des Justizministeriums sagte. Das liege unter anderem an einer höheren Zahl von Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz und mehr Fällen im Bereich der Kinderpornografie, weil die Strafen zuletzt verschärft wurden und immer mehr sogenannte Schulhof-Verfahren registriert werden müssten. In diesem Bereich schoss die Zahl der Verfahren im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum laut Ministerium um 70 Prozent nach oben. Außerdem sei die Strafbarkeit von Geldwäsche massiv verschärft und ausgeweitet worden.
Mit dem derzeitigen Personalstand lassen sich die Aktenberge aus Sicht des Richterbundes nicht abtragen. »Eine personell ausgelaugte Strafjustiz ist kaum noch in der Lage, mit den wachsenden Aufgaben Schritt zu halten«, kritisierte Rebehn. Bundesweit fehlten nach den offiziellen Personalschlüsseln der Länder allein in den Staatsanwaltschaften und Strafgerichten 1500 Juristen. Und es kommt hinzu, dass bis zum Jahr 2030 eine große Pensionierungswelle auf die Justiz zurolle.
Die Strafjustiz müsse deutlich besser ausgestattet werden, um die wachsenden Aufgaben zu erledigen. »Eine Justiz nach Kassenlage, die Strafgesetze am Ende nur noch selektiv durchsetzen kann, wäre Gift für das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat«, warnte Rebehn.
Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU) verweist auf die ihrer Einschätzung nach deutlich ausgebaute Personallage in der Justiz. Im Bereich der Amts-, Land- und Oberlandesgerichte sowie der Staatsanwaltschaften seien im Zeitraum von 2017 bis 2022 über 330 zusätzliche Stellen geschaffen worden. Mit dem aktuellen Doppelhaushalt kämen noch einmal 67,5 Neustellen für zusätzliche Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte hinzu.
Allerdings sieht auch sie das Problem: Mit Blick auf die unerledigten Fälle pro Kopf weise Baden-Württemberg zwar im bundesweiten Vergleich den zweitniedrigsten Stand aller Länder auf. »Die Entwicklung stellt aber eine große Herausforderung dar, die wir bei weiteren Personalplanungen im Blick behalten«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.
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