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Wann gilt ein Kind hierzulande als arm?

In Stuttgart leben prozentual weniger Kinder von Hartz-IV als in einigen anderen Städten des Landes.

Wichtige Unterstützung für Familien mit wenig Geld: Das Essen in der Schulmensa ist für bedürftige Kinder kostenlos. FOTO: KRAU
Wichtige Unterstützung für Familien mit wenig Geld: Das Essen in der Schulmensa ist für bedürftige Kinder kostenlos. FOTO: KRAUFMANN/DPA
Wichtige Unterstützung für Familien mit wenig Geld: Das Essen in der Schulmensa ist für bedürftige Kinder kostenlos. FOTO: KRAUFMANN/DPA

STUTTGART. Ist Stuttgart bei der Kinderarmut das Schlusslicht in Baden-Württemberg? Diese Einschätzung, die kürzlich wieder verbreitet wurde, ist falsch. Sie beruht auf einem fragwürdigen und durchaus umstrittenen Armutsbegriff.

Kürzlich wurde die Nachricht verbreitet, bei der Kinderarmut stehe die Landeshauptstadt in Baden-Württemberg »besonders schlecht da«, sie bilde im Land hier das »Schlusslicht«. Denn: 23,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Stuttgart lebten in finanziell prekären Verhältnissen. Die Frage ist nur: Stimmt das überhaupt? Eher nicht. Aber der Reihe nach.

Welche Armutsquote oder welche Armutsrisikoquote man erhält, hängt ab von der Definition, wer eigentlich als arm gilt. Von relativer Armut spricht man zum Beispiel, wenn eine Person oder eine Familie weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Dieser Armutsbegriff liegt der obigen Prozentzahl zugrunde. Die Praktiker auch der Stuttgarter Sozialverwaltung aber arbeiten mit einer anderen Auffassung von Armut, diese orientiere sich an der »Abhängigkeit von Leistungen der sozialen Mindestsicherung«, sagt die Sozialplanerin Sabrina Pott von der Stadt.

Transferleistungen als Maßstab

Das hat mehrere Gründe: Zum einen lässt sich der Umfang der Transferleistungen messen und ihr Ausmaß sogar herunterbrechen bis auf die Ebene der Stadtteile. »Damit lässt sich besser arbeiten«, sagt Pott. Man möchte sagen: Damit lässt sich überhaupt erst konkret sozialpolitisch arbeiten. Für den relativen Armutsbegriff gilt das nicht. Dessen Ergebnisse werden aus einer abstrakten Formel gewonnen, die stets nur Relationen zum Wohlstand der gesamten Gesellschaft liefert. Selbst wenn man das Einkommen aller Gruppen verzehnfachen und sich die Lebensbedingungen auch der ärmeren Schichten und Milieus deutlich verbessern würden, bliebe die Armutsquote gleich.

Dadurch lässt sich keine realistische Sicht auf die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen gewinnen. »Da wir in Stuttgart auch einen großen Anteil an hohen und sehr hohen Einkommen haben, ist das Medianeinkommen auch entsprechend hoch, sodass der Abstand von niedrigen Einkommen größer ist als in anderen Städten«, sagt Sabrina Pott. Das erklärt den nach dieser Methode vergleichsweise sehr hohen Wert der Kinderarmut in Stuttgart.

Macht man die Quote der Transferleistungen zum Maßstab und nimmt eine Studie des Landes Baden-Württemberg vom vergangenen Mai zur Hand, sieht das Ergebnis anders aus. Hier liegt der Anteil der Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren im Hartz-IV-Bezug in Stuttgart bei 12,7 Prozent. Höher liegen die Werte nach dieser Rechnung aber in Freiburg (13 Prozent), Pforzheim (18,5 Prozent) und in Mannheim (18,9 Prozent).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Großstädte generell höhere Anteile von Haushalten im Leistungsbezug haben. Zum einen ist dort der Anteil der Kinder und Jugendlichen in Familien, die Hartz IV beziehen, größer als in ländlichen Gebieten. Und der Prozentsatz der Alleinerziehenden, die das höchste Armutsrisiko haben, ist besonders groß.

Sogar im Landesschnitt, also inklusive der ländlichen Gebiete, lebten Ende 2019 in Baden-Württemberg 46 Prozent aller Kinder im Hartz-IV-Bezug mit einem alleinerziehenden Elternteil, 45 Prozent in einer kinderreichen Familie, mehr als 40 Prozent hatten einen ausländischen Pass. Drei Viertel aller dieser Kinder leben in einem Haushalt, in dem mindestens ein Elternteil langfristig Hartz IV bezieht.

Kinderarmut etwas gesunken

Dennoch ist in Stuttgart der Anteil der auf Hartz IV angewiesenen Kinder zurückgegangen. »In den vergangenen Jahren ist die Kinderarmut in der Tendenz eher etwas gesunken«, sagt Sabrina Pott. Aus dem einfachen Grund, »weil der Arbeitsmarkt sehr gut war« und die Eltern wieder Jobs gefunden haben. Und es gebe auch »keinen Corona-Effekt« in die andere Richtung, so Pott.

Nach Angaben des Jobcenters der Stadt hat die Zahl der Kinder in Hartz-IV-Familien von Januar 2019 bis August 2021 von 13 411 auf 12 279 abgenommen, das ist ein Minus von 8,4 Prozent. Zum Vergleich: Nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit hat diese Zahl in München um 4,6 Prozent zugenommen. München hat bei der Kinderarmut nach Transferleistungen allerdings mit einem Anteil von 10,5 Prozent den besten Wert unter den Großstädten in der Republik (Statistik von August 2021). Doch Stuttgart folgt mit 12,5 Prozent gleich nach Dresden (11,8) auf Platz drei. Die anderen Großstädte haben teils deutlich höhere Werte, etwa Frankfurt (17,7 Prozent), Düsseldorf (18,2), Hamburg (19 Prozent) und auch Köln (21,4). »Wir sind auf einem guten Weg«, ist Andreas Hammer überzeugt, der im Stuttgarter Jobcenter dem Amtsleiter zuarbeitet. Diesen Schluss zieht er nicht nur aus der Tatsache, dass die Coronakrise nicht zu einem Anstieg der Kinderarmut geführt hat. Vor allem die Entwicklung der vorigen Jahre macht Hammer zuversichtlich. (GEA)