STUTTGART. Die Stadtbahn-Haltestelle Charlottenplatz hat fast alles: eine Kneipe mit legendärem Ruf, eine Bäckerfiliale, Kioske, ein Kundenzentrum der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB). Was sie nicht hat: ein einnehmendes Äußeres und übersichtliche Wegeführungen. »Das ist nicht der Platz, den ich Freunden, die zum ersten Mal in der Stadt sind, als Erstes zeigen würde«, sagt Nikolaus Niederich. Aber der promovierte Historiker will das nicht abwertend verstanden wissen. Im Gegenteil: Ihm ist die verworrene Haltestelle sogar eine gut anderthalbstündige Führung wert.
Nikolaus Niederich weiß, wovon er spricht. Der Sohn eines Stuttgarter Straßenbahners hat seine Promotionsschrift dem Thema »Stadtentwicklung und Nahverkehr – Stuttgart und seine Straßenbahnen 1868–1918« gewidmet und ist seit 2009 Vorsitzender des Vereines Stuttgarter historische Straßenbahnen (SHB).
»Nicht der Platz, den ich Freunden, die zum ersten Mal in der Stadt sind, als Erstes zeigen würde«
Nur das Verhältnis zum Charlottenplatz blieb im Hause Niederich ambivalent. »Meine Mutter war ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt unterwegs. Den Charlottenplatz hat sie, wenn es möglich war, gemieden.« Das mag an der nicht ganz einfachen Wegeführung an diesem zentralen Punkt im Netz der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) liegen. Dort kreuzen sich die Linien auf zwei Ebenen – unten jene, die in Ost-West-Richtung unterwegs sind, oben jene, die die Stadt von Nord nach Süd durchmessen. »Es fehlt aber eine Verteilerebene«, stellt Niederich fest. Die sei bei der Planung dem Hang zur Sparsamkeit zum Opfer gefallen. Mit erheblichen Folgen für die Fahrgäste. Wer etwa aus dem Westen kommt und in Richtung Fernsehturm oder Degerloch weiterwill, steigt erst eine Treppe hinauf, eine weitere wieder hinab, um schließlich nochmals vor einer Treppe aufwärts zu stehen.

Auf diesen Wanderungen gibt es allerdings einiges zu entdecken: etwa an der Unterführung auf der Seite Richtung Olgaeck. Dort zeigt sich das unterirdische Verkehrsbauwerk in seiner Urform. Es dominieren kleine Mosaikfliesen in kräftigen Rot- und Gelbtönen. Neben einem der zahlreichen Treppenab- oder -aufgängen – je nach Perspektive – hängt unscheinbar die Tafel zur Verleihung des Paul-Bonatz-Preises im Jahr 1967. Am kaum genutzten Ausgang aus der unteren Ebene in den Akademiegarten findet sich noch der hölzerne Handlauf aus den ersten Tagen, der andernorts längst einer Edelstahlvariante gewichen ist. Auf einer kaum mannshohen Metalltür prangt die Aufschrift »Katakomben«, was nicht den Weg zu einer frühchristlichen Begräbnisstätte weist, sondern zu profanen Technikräumen.
»Wie bei Maultaschen: Man muss sich darauf einlassen, auch wenn es merkwürdig aussieht«
Dass sich die obere und die untere Ebene in ihrer Gestaltung unterscheiden, liegt an der abschnittsweisen Inbetriebnahme. Was fertig gebaut war, wurde auch umgehend genutzt. Am Charlottenplatz war die Reihenfolge: erst oben, dann unten. Priorität hatte, dass die Bahnen, die den Platz in Nord-Süd-Richtung queren, als Erstes im Untergrund verschwinden.
CHARLOTTENPLATZ
Führung durch die Haltestelle
Die erste Führung durch die Haltestelle Charlottenplatz am 5. November ist bereits ausgebucht. Der nächste Termin ist am Sonntag, 19. November. Beginn ist um 14 Uhr am Mercedes-Benz-Museum. Von dort geht es mit einem Oldtimerbus an den Charlottenplatz. Die Tour endet im Straßenbahnmuseum. Karten kosten 5 Euro. Wer mitgehen möchte, muss sich anmelden. Die Karten werden dann vor Ort verkauft. anmeldung@ssb-ag.de
Ein Teil des Verkehrsbauwerks ist ein Provisorium, das sich als ausgesprochen langlebig erwiesen hat. Die Rampe, über die die Bahnen wieder in der Charlottenstraße ans Tageslicht gelangen, war nur als Übergangslösung gedacht. Eigentlich sollte der Tunnel bis zum Bopser weitergeführt werden. Den Abzweig am Olgaeck Richtung Eugensplatz hätte es dann nicht mehr gegeben – wie den ganzen südlichen Ast der U 15. Vor der Tunnelausfahrt, die eigentlich keine sein sollte, ist in einer Vitrine das Modell eines U-Bahn-Zugs zu sehen. Ganze 45 Kilometer lang wäre das einst in Stuttgart geplante U-Bahn-Netz gewesen, auf dem sich übersichtliche drei Linien getummelt hätten. Nicht zuletzt aus Kostengründen ist man in der Landeshauptstadt aufs Stadtbahnsystem umgeschwenkt, dessen Netz es heute auf eine Länge von 137 Kilometern bringt – mit dem Charlottenplatz als einem der zentralen Knotenpunkt fürs Umsteigen.
Eine ästhetische Einordnung des komplexen Haltestellenbauwerks im Herzen der Stadt hält Nikolaus Niederich für nicht zielführend. »Schön gilt nicht«, sagt er und bemüht ein Bild aus der regionalen Küche: »Das ist wie bei Maultaschen: Man muss sich darauf einlassen, auch wenn es merkwürdig aussieht.« (GEA)