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Aktuell Kriminalität

Tod Inhaftierter: Die Pfleger wurden eingespart

Nach dem Tod zweier Infhaftierter in Polizeigewahrsam stellt sich die Frage nach der Verantwortung

75 Prozent der hilflosen Personen werden nachts aufgegriffen und landen in einer Zelle wie dieser im Polizeigewahrsam.  FOTO: GE
75 Prozent der hilflosen Personen werden nachts aufgegriffen und landen in einer Zelle wie dieser im Polizeigewahrsam. FOTO: GEA
75 Prozent der hilflosen Personen werden nachts aufgegriffen und landen in einer Zelle wie dieser im Polizeigewahrsam. FOTO: GEA

STUTTGART. Manchmal kneift Wolfgang Kudlacek den Patienten hinterm Ohr, und das tut weh. »Ein Schmerzreiz, der eine gezielte Reaktion auslösen soll«, sagt der Arzt. Ein Blick in die Augen: Sind die Pupillen unterschiedlich groß? Was macht die Atmung? Wie ist der Blick, die Sprache, die Motorik? Hier, in der Zentralen Ausnüchterungseinheit im Polizeipräsidium auf dem Pragsattel, geht es dem Arzt aber weniger um die Diagnose von Krankheiten, sondern um die Frage: Kann dieser betrunkene Mann die Nacht in einer Zelle zubringen oder ist gesundheitlich Schlimmeres zu erwarten?

Ein Arzt berichtet

Nacht für Nacht bringen Polizisten gut ein halbes Dutzend hilflose Personen in den Polizeigewahrsam in der Hahnemannstraße. Und immer wieder geht es um die Frage: haftfähig oder nicht? Kudlacek gehört zu jenen elf Ärzten, die sich abwechselnd nachts von 20 bis 6 Uhr im Gewahrsam um die Opfer von Alkohol- und Drogenkonsum kümmern. 75 Prozent der Hilflosen werden nachts aufgegriffen. »Menschen, die man nicht mehr allein lassen kann, die bedroht sind«, sagt der Mediziner. »Es geht letztlich um Schutz, es geht um Sicherheit.«

Jährlich landen 2 100 Menschen in der Zentralen Ausnüchterungseinheit, die im November 2001 als eine »bundesweit einmalige Einrichtung« im Polizeipräsidium eingerichtet wurde. Lange lief alles gut – bis die Polizei am Montag melden musste: Zwei 48 und 51 Jahre alte Männer sind unabhängig voneinander an verschiedenen Tagen in den Zellen gestorben.

Das wirft Fragen auf: Hätte der Arzt den Ernst der Lage nicht bemerken müssen? Haben die Kontrollgänge ausgereicht? Inzwischen haben Gerichtsmediziner die Todesursachen festgestellt: Der 49-Jährige, der mit über drei Promille eingeliefert wurde, hatte ein subdurales Hämatom, eine versteckte Gehirnblutung. Der 51-Jährige starb an Herzversagen, nach Entzugserscheinungen mit Krampfanfällen.

Müsste das nicht auffallen? »Wir machen mit unseren Mitteln eine Momentaufnahme«, sagt Kudlacek. Da könnten sich Zustände ändern. »Aber natürlich haben wir Betroffene auch ins Krankenhaus geschickt, um dort eine CT zu fahren, eine computergestützte Röntgenuntersuchung.« Bei Betrunkenen lautet stets die Frage: Was ist alkoholbedingt, was ist auf eine Verletzung oder ein Gesundheitsproblem zurückzuführen?

Wolfgang Kudlacek ist 66 Jahre alt und im Ruhestand – ein Anästhesist, ein Intensivmediziner, vor allem aber ein Notfallmediziner. Zehn Jahre lang war er als Leitender Notarzt im Kreis Esslingen unterwegs. Nun ist er freiberuflich dreimal im Monat nachts im Polizeigewahrsam anwesend, um Hilflose zu begutachten, um Blutproben abzunehmen.

Dort ist er, wie seine Kollegen auch, inzwischen allein. Eigentlich sollten die Betroffenen in der Zelle, wie von der Landesärztekammer anfangs verkündet, »unter ärztlicher Leitung ständig von Pflegekräften überwacht werden, damit bei den nicht selten akut auftretenden gesundheitlichen Problemen sofort eine adäquate ärztliche Behandlung durchgeführt werden kann«.

Doch eine medizinisch geschulte Pflegekraft passt hier nicht mehr auf. »Den Pflegedienst gibt es seit November 2015 nicht mehr«, sagt Polizeisprecher Stefan Keilbach. Das hat mehrere Gründe: Zum einen seien die Kosten gestiegen, das Budget aber nicht erweitert worden. Zum anderen sei die Zahl der Einlieferungen über die Jahre um bis zu 40 Prozent zurückgegangen. Und weil die 30 Polizisten im Gewahrsam als Ersthelfer fortgebildet seien, habe man sich für die Streichung des Pflegedienstes entschieden.

Medizinisch gesehen würde Kudlacek anders entscheiden. »Die Polizeibeamten leisten eine hervorragende Arbeit«, sagt er, »aber eine geschulte medizinische Kraft erkennt eine Zustandsänderung beim Patienten natürlich viel besser.«

Freilich: Andere Polizeidienststellen wären froh, überhaupt nachts einen Arzt an zentraler Stelle ansprechen zu können. »Und man muss das auch im Verhältnis dazu sehen, dass wir in 18 Jahren über 30 000 Menschen in der Einrichtung hatten«, sagt Keilbach. Seit 2001 habe es insgesamt vier Todesfälle gegeben. Davor waren es 19 Tote seit 1986. (GEA)