Vor dem sogenannten Flüchtlingsgipfel am Mittwoch (16.30 Uhr) in Stuttgart haben Städte, Kommunen und Kreise den Druck auf das Land erhöht. Es werde ein klares Entgegenkommen ebenso erwartet wie ein deutliches Signal an die Ampelkoalition, ließen die Kommunalverbände vorab wissen. Die Landesregierung hofft zumindest, dass das zweieinhalbstündige Treffen im Neuen Schloss mehr ergibt als nur Symbolik. »Das Ziel ist, die Verantwortungsgemeinschaft zwischen den Beteiligten zu stärken«, so hatte es Regierungschef Winfried Kretschmann am Dienstag eher unkonkret formuliert. Einfach würden die Gespräche aber nicht werden.
Unter dem Druck der Kommunen hatte der Ministerpräsident Ende Oktober den »Flüchtlingsgipfel« angekündigt und neben den zuständigen Ministerien und den Vorsitzenden aller Fraktionen im Landtag die kommunalen Spitzenverbände sowie Vertreter von Wirtschaft, Arbeitsagentur und aus der Zivilgesellschaft eingeladen. Gesprochen werden soll über Fragen der Aufnahme, Unterbringung und Integration der Menschen. Unklar blieb vor dem Auftakt, ob bei den Gesprächen der rund 40 Teilnehmer bereits konkrete Entscheidungen getroffen werden. Sie würden sich auf einen Stand bringen und klären, »wer noch welche Hausaufgaben zu erledigen« habe, sagte Kretschmann lediglich.
Aus Sicht des Präsidenten und Hauptgeschäftsführers des Gemeindetags Baden-Württemberg, Stefan Jäger, muss der Flüchtlingsgipfel deutlich machen, dass »mutmaßlich auch Entscheidungen zu treffen sein werden, die unser aller Lebenswelt tangieren«. Der Gipfel müsse »ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein schaffen«.
Sozialverbände forderten kurz vor dem Auftakt der Gespräche, die Aufnahme betroffener Menschen nicht von ihren Herkunftsländern abhängig zu machen. Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine dürfe nicht vergessen werden, dass auch in anderen Regionen der Welt Menschen tagtäglich durch Kriege und bewaffnete Konflikte zur Flucht gezwungen würden. »Auch diesen Menschen gegenüber sollten wir uns solidarisch zeigen«, sagte Anja Bartel, die Geschäftsleiterin des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.
Schutzsuchende Menschen unterschiedlicher Herkunft dürften auch nicht gegeneinander ausgespielt werden, sagte sie und kritisierte Aussagen von Justizministerin Marion Gentges (CDU) über ein neues Aufnahmeprogramm des Bundes für besonders gefährdete Afghanen. Die CDU-Politikerin hatte in einem Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärt, es sei angesichts der angespannten Flüchtlingslage nicht »verantwortbar«, per Sonderprogramm auch noch Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Ukrainische Geflüchtete erhalten zudem seit dem 1. Juni Hartz IV und können dank des sogenannten Rechtskreiswechsels auch eine eigene Wohnung anmieten und eine Arbeit aufnehmen.
Vor allem die Kommunen hatten immer wieder gewarnt, die Aufnahmekapazitäten des Landes, der Städte und Gemeinden seien weitgehend erschöpft - und eine Abnahme der Flüchtlingszahlen nicht in Sicht. Nach Angaben des Migrationsministeriums sind bislang rund 170.000 Geflüchtete und Migranten im Südwesten angekommen, allein 142.000 davon aus der Ukraine. Die Zahl der Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes ist seit den ersten Schüssen an der russisch-ukrainischen Grenze Ende Februar von rund 6000 auf derzeit mehr als 13.500 ausgebaut worden. In der vorläufigen Unterbringung finden derzeit rund 55.000 Menschen Platz.
Überschattet werden die Gespräche im Neuen Schloss auch durch die jüngste Gewalttat von Illerkirchberg, bei der am Montag mutmaßlich ein 27-Jähriger zwei Schülerinnen vermutlich mit einem Messer angegriffen hatte. Eines der beiden Mädchen starb später, das andere kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Die Polizei nahm den Tatverdächtigen, einen Asylbewerber aus Eritrea, fest.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann warnte am Dienstag vor voreiligen Schlüssen. »Ich kann nur warnen, irgendwelche Zusammenhänge aufzustellen, bevor überhaupt die Tat aufgeklärt ist«, sagte der Grünen-Politiker in Stuttgart. Einen Zusammenhang mit dem anstehenden Flüchtlingsgipfel in Baden-Württemberg sieht Kretschmann nicht.
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