Angesichts der Sex-Affäre um den Inspekteur der Polizei fordert die Grünen-Fraktion eine Verschärfung des Disziplinarrechts. Das Ausüben sexueller Gewalt müsse künftig bei der Polizei als schweres Dienstvergehen gewertet werden, sagte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Oliver Hildenbrand, der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. »So können wir noch besser gewährleisten, dass solches Fehlverhalten mit angemessener Härte geahndet wird.«
Zudem müsse geprüft werden, ob nach dem Abschluss eines Disziplinarverfahrens - sofern eine Verfügung oder ein Urteil ergehe - bereits bezahlte Bezüge zurückgefordert werden könnten, sagte Hildenbrand.
Der Inspekteur der Polizei, der ranghöchste Polizist des Landes, steht derzeit wegen sexueller Nötigung vor Gericht. Er soll seine Machtstellung ausgenutzt haben, um im November 2021 eine damals 32 Jahre alte Kommissarin zu sexuellen Gefälligkeiten zu drängen. Der Inspekteur ist vom Dienst freigestellt - kassiert aber seitdem weiter monatliche Bezüge in Höhe von mehr als 8000 Euro. Der Fall schlug politisch und medial große Wellen.
Inzwischen gibt es Medien zufolge an der Hochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis) Vorwürfe wegen sexueller Belästigung. Ein Polizist, der dort als Dozent tätig gewesen sein soll, sei wegen grenzüberschreitenden Verhaltens gegenüber Polizistinnen vom Dienst suspendiert worden, berichteten die Tageszeitungen »Badische Zeitung«, »Badische Neueste Nachrichten« und andere Medien am Samstag. Demnach sollen an der Hochschule zudem bei einem Vortrag eines Referenten unangemessene Bemerkungen gefallen sein.
Ein Sprecher des Stuttgarter Innenministeriums teilte auf dpa-Anfrage mit, das Ministerium sei von der Hochschule über die Vorwürfe informiert worden. »Der Sachverhalt wird derzeit einer umfassenden rechtlichen Prüfung durch die Hochschule unterzogen.« Details zu den Vorwürfen wurden vom Sprecher nicht mitgeteilt. »Erste disziplinarrechtliche Maßnahmen wurden bereits eingeleitet«, sagte er.
Das baden-württembergische Disziplinarrecht unterscheidet nach ergänzenden Angaben leichte, mittelschwere und schwere Dienstvergehen. Die Ampel-Koalition reformiert derzeit das Disziplinarrecht für den Bund und will diese Dreiteilung übernehmen. Allerdings mangele es an einer Definition, was als schweres Dienstvergehen zähle, sagte Grünen-Politiker Hildenbrand.
Aus Sicht der Grünen muss neben dem Verbreiten rechtsextremistischer Inhalte auch die Ausübung sexualisierter Gewalt künftig in Bund und Land als schweres Dienstvergehen gewertet werden. »Eine Qualifizierung als schweres Vergehen würde einen Beitrag leisten, dass disziplinarrechtliche Maßnahmen schärfer ausfallen.« Eine Ausdehnung auf den Bereich der Sexualdelikte müsse geprüft werden.
Hildenbrand fordert auch eine Reform an der Spitze der baden-württembergischen Polizei - und regt eine Verschlankung der Führung an. Mit der Landespolizeipräsidentin, dem Inspekteur der Polizei, dem Landeskriminaldirektor, dem Landespolizeidirektor, den Präsidentinnen und Präsidenten der regionalen Polizeipräsidien sowie den Präsidenten der weiteren Präsidien und Einrichtungen gebe es aktuell »eine sehr breite Führungsspitze« bei der Polizei im Land, kritisierte er. »Wir wollen kritisch hinterfragen, ob wir diese Breite in der Spitze tatsächlich brauchen.«
Die Deutsche Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg reagierte kritisch: »Was Herr Hildenbrand von den Grünen bemängelt, ist ein Konstrukt, das sie selbst geschaffen haben, denn sowohl unter Grün-Rot als auch nun mit Grün-Schwarz stellen sie die Leitung der Regierung und verantworten die heutige Führungsstruktur in der Polizei«, erklärte der Landesvorsitzende Ralf Kusterer auf Anfrage.
2014 sei »die gesamte Polizeistruktur auf den Kopf gestellt« worden - entgegen des Rats seiner Gewerkschaft. Es sei deshalb unredlich, die Polizeiführung für etwas zu kritisieren, was die politische Führung zu verantworten habe, sagte Kusterer. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) regierte von 2011 an in einer Koalition mit der SPD. Seit 2016 gibt es eine grün-schwarze Landesregierung.
Die Grünen-Fraktion fordert zudem eine neue Fehlerkultur bei der Polizei. Hildenbrand spricht von der Tendenz, »interne Probleme und Missstände unter einem Mantel des Schweigens zu verhüllen«. »Das kann dazu führen, dass Beamtinnen und Beamte lange stillhalten, obwohl sie vielleicht ein schlechtes Gefühl haben mit dem, was eine Kollegin oder ein Kollege tut.«
Zudem kritisierte Hildenbrand, dass Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz, als sie den Inspekteur mit der jungen Kommissarin bei einem Coaching-Gespräch in seinem Dienstzimmer bei Sekt antraf, nichts gesagt, sondern sich dazugesetzt und mitgetrunken habe. Zudem seien Penisbilder, die der Inspekteur über mehrere Jahre an Polizistinnen verschickte, über viele Jahre nicht bekannt geworden. Das seien Anzeichen für ein »Verschwiegenheitsphänomen«, sagte er.
Auch rechte Chatgruppen seien vor allem durch Zufallsfunde bekannt geworden. Das sei »Ausdruck einer ganz falsch verstandenen Solidarität und Kollegialität«. Mit Blick auf die Fehlerkultur sei die Erkenntnis bei der Polizei noch nicht so ausgeprägt wie notwendig.
Polizeiexperte Sascha Binder von der oppositionellen SPD-Landtagsfraktion teilte mit, es vergehe kaum mehr ein Tag, an dem nicht eine "unerträgliche Nachricht"" aus der Spitze der Landespolizei publik werde. "Unter der Leitung von Innenminister (Thomas) Strobl hat sich die Führung der Polizei in Baden-Württemberg in eine bedenkliche Richtung entwickelt", kritisierte Binder mit Blick auf den CDU-Politiker.
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