Das Ergebnis der Urwahl der Grünen in Tübingen zeigt nach Auskunft des Politologen Josef Schmid einmal mehr, dass die Partei offensichtlich gespalten ist. »Das hat weniger etwas mit der Person Ulrike Baumgärtner zu tun«, sagte Schmid, der an der Universität in Tübingen lehrt. Unter denjenigen, die bei der Urwahl mit Enthaltung oder einem Nein zu Baumgärtner als Kandidatin für die Oberbürgermeister-Wahl im Herbst gestimmt hätten, seien viele Befürworter von Amtsinhaber Boris Palmer.
Dem bundesweit bekannten, aber in seiner Partei seit Jahren umstrittenen Rathauschef droht der Ausschluss, weil ihm die Grünen kalkulierte Tabubrüche und Entgleisungen vorhalten.
Auf Baumgärtner als offizielle Grünen-Kandidatin entfielen am Sonntag 149 Ja-Stimmen (55 Prozent), 103 wahlberechtigte Mitglieder des Stadtverbands stimmten gegen sie (38 Prozent). Im Streit mit Palmer haben die Grünen auf eine Nominierungsveranstaltung verzichtet. »Diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, sagen uns ganz sicher, dass eine Person mit grünen Inhalten antreten soll bei der OB-Wahl, aber auch, dass Baumgärtner nicht die richtige ist«, sagte Bruno Gebhart, Gründungsmitglied der Alternativen Liste (AL) und deren Vorstandsmitglied. Die AL und die Grünen in Tübingen bilden gemeinsame eine Fraktion im Gemeinderat.
Unter den Mitgliedern der AL und der Grünen seien vor der Urwahl die Optionen diskutiert worden. »Wenn jemand der Meinung war, dass Boris Palmer gute Politik macht, konnte er ja gar nicht für ihn stimmen, weil er ja wusste, dass diese Stimmen für ungültig gewertet worden wären«, meinte Gebhart. Um das zu vermeiden, hätten viele der Grünen-Mitglieder lieber mit Nein gestimmt, obwohl sie eigentlich den Namen Boris Palmer schreiben wollten.
Die AL gab am Montag bekannt, im anstehenden Wahlkampf für die Wiederwahl von Palmer als Oberbürgermeister eintreten zu wollen. »Es ist eine absolutes Novum, dass AL und Grüne zwei verschiedene Kandidaturen unterstützen«, sagte Gebhart. Wie genau die Unterstützung für Palmer ausgestaltet werden soll, werde in einer Mitgliederversammlung am 4. Mai besprochen. Ziel sei es, weiter den OB und die stärkste Fraktion zu stellen. »Dafür ist jetzt Fairness im Wahlkampf entscheidend«, sagte Gebhart.
Mit Palmer sei bereits ein erstes Gespräch geführt worden. Der Grünen-Politiker habe dem Vorstand zugesichert, dass er seine Kandidatur zu Gunsten der Grünen-Bewerberin zurückziehen werde, falls er in einem ersten Wahlgang weniger Stimmen erhalten sollte als Baumgärtner. »Damit ist aus Sicht des Vorstands eines wichtige Voraussetzung geschaffen, dass der Wahlkampf nicht dazu führt, dass weder Boris Palmer noch Ulrike Baumgärtner als OB gewählt werden« erklärte Gebhart.
Auf Palmer entfielen am Sonntag 14 Stimmen, obwohl er gar nicht an der Urwahl teilgenommen hatte. Möglich war dies durch ein Freifeld, in dem auch ein anderer Name als der der offiziellen Kandidatin Baumgärtner eingetragen werden konnte. Die Stimmen für Palmer wurden jedoch als ungültig gewertet. Dies hatte der Vorstand der Grünen vor der Wahl so beschlossen. Es gab 496 Wahlberechtigte. Gewählt haben 287 (58,9 Prozent).
Die Fraktion AL/Grüne ist seit 1999 eine Listenverbindung der AL und des Stadtverbands der Grünen. In dieser eigenständigen kommunalpolitischen Tradition hat die AL immer selbst über die Unterstützung bei OB-Wahlen entschieden. Deswegen gab es auch bei der AL am Sonntag parallel zum Stadtverband der Grünen eine Urwahl. Die Regularien waren jedoch anders. Briefwahl war eine ganze Woche lang erlaubt. Die Wahlbeteiligung lag bei 75 Prozent. Das Freifeld war anders als beim Stadtverband nicht eingeschränkt. Stimmen für Palmer wurden dort nicht als ungültig gewertet. Obwohl es auch bei der AL nur einen Namen auf dem Stimmzettel gab, nämlich den von Baumgärtner, hat eine Mehrheit von 61 Prozent (24 von 39 abgegebenen Stimmen) für Palmer votiert.
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