STUTTGART. Der Nahverkehr auf der Schiene im Land ist immer für Überraschungen gut. Mal streikt eine Weiche, mal zickt die Oberleitung, mal fehlt es an Personal, das die Züge bewegen könnte. Leidtragende sind die Fahrgäste, die häufig stranden oder zu spät kommen. Seit rund einem halben Jahr ist Matthias Lieb als Qualitätsanwalt für Fahrgäste bei der landeseigenen Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) damit beschäftigt, Beschwerden zu kanalisieren und Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Lage zu suchen.GEA: Herr Lieb, sind Sie der Landesprellbock?
Matthias Lieb: Nein. Wer sollte denn da dagegenprallen?
Der geballte Unmut über die Zustände im Regionalverkehr auf der Schiene im Land.
Lieb: Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: ich bekomme Rückmeldungen von Leuten, die froh sind, dass sich nun jemand konkret kümmert.
Also alles in Butter? Früher ging es auch ohne das Amt eines Qualitätsanwalts für Fahrgäste, das Sie nun seit gut einem halben Jahr innehaben.
Lieb: Ja, früher ist es ohne gegangen. Früher hat auch mehr funktioniert. Es gibt im System deutlich mehr Schnittstellen als noch vor einigen Jahren. Da ist es gut, dass es jemanden gibt, der das aus erhöhter Warte betrachtet und Hinweise geben kann, wo es hakt.
Was treibt die Nutzer am meisten auf die Palme? Verspätungen? Ausgefallene Züge? Mangelnde Informationen?
Lieb: Das kann man so nicht sagen. Ich werde nicht im Einzelfall aktiv. Aber wenn es eine Häufung gleich gelagerter Beschwerden gibt, dann schaue ich genauer hin. Das diskutieren wir in der Qualitätsabteilung der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg. Wir bekommen nur die bei uns eingehenden Beschwerden vorgelegt. Was bei den Verkehrsverbünden im Land aufläuft, sehen wir nicht. Was sich aber sicherlich schon zeigt: Bei der sogenannten Anschlusssicherung gibt es noch deutlich Luft nach oben. Die Bahngesellschaften müssen untereinander klären, ob auf Umsteiger aus einem verspäteten Zug gewartet wird. Das funktioniert nicht immer. Bei der Nahverkehrsgesellschaft ist ein Pilotprojekt in Vorbereitung, um zu testen, ob dies durch künstliche Intelligenz verbessert werden kann.
Wie viele Beschwerden laufen pro Jahr bei der Nahverkehrsgesellschaft ein und steigt die Zahl?
Lieb: Im vergangenen Jahr haben wir 694 Anliegen mit Qualitätsbezug bearbeitet, das heißt rund 57 pro Monat. In diesem Jahr waren es im Zeitraum Januar bis April 160 Anliegen, als 40 pro Monat. Hinzu kommen noch über 400 Anfragen pro Jahr zum Fahrplan.
Wer ist Ihr Ansprechpartner, wenn Sie einen Missstand identifiziert haben?
Lieb: Mal sind es die lokalen Verkehrsbetriebe, mal die Eisenbahngesellschaften, die im Auftrag des Landes unterwegs sind, mal der Betreiber der Infrastruktur oder Bahnhöfe. Ich weiß auch nicht immer, wer konkret zuständig ist, aber ich kann es leichter herausfinden als die betroffenen Fahrgäste.
Und nun mal konkret. Was können Sie tun?
Lieb: Ich habe zum Beispiel einen Toiletten-Gipfel einberufen…
Verzeihung?
Lieb: Toiletten in den Zügen fallen auch deshalb aus, weil sie nicht an allen Wartungspunkten entleert werden können. Leider wird das beim Bau von neuen Anlagen nicht immer bedacht. Also habe ich alle Beteiligten an einen Tisch gebracht, um darüber zu sprechen.
Sind solche grundlegenden Dinge nicht längst bedacht?
Lieb: Verschiedene Akteure haben unterschiedliche Ideen. Mobile Anlagen oder stationäre Einrichtungen. Da können die Ansichten schon mal auseinandergehen. Wir haben jetzt eine Übersicht zusammengetragen, was wo besteht. Häufig sind es Probleme an der Infrastruktur, die von der neugegründeten Gesellschaft InfraGo betreut wird. Mit der hat das Land aber kein Vertragsverhältnis, über das wir einwirken könnten. Unsere Partner sind die Eisenbahnverkehrsunternehmen, die mit der Infrastruktur zurechtkommen müssen.
Abseits solcher drängenden Probleme: Welche Handhabe haben Sie gegenüber den Bahngesellschaften, damit sie diese Missstände auch abstellen?
Lieb: Ich sehe meine Aufgabe darin, die Probleme systematisch zu erfassen, zu analysieren und dann gegenüber den Unternehmen darauf hinzuwirken, dass die Mängel schließlich beseitigt werden.
Klingt nicht nach direktem Durchgriff. Was müsste sich strukturell ändern?
Lieb: Wir müssen die Abläufe wieder stärker aus einer Hand bekommen. Ich habe es mit dem Infrastrukturbetreiber zu tun und mit den verschiedenen Bahngesellschaften. Die verfolgen nicht immer das gleiche Ziel.
Genau diese Vielfalt war eines der Ziele der Bahnreform. Es sollte nicht weiterhin nur den trägen Dampfer Bundesbahn geben.
Lieb: Die Bundesbahn war nicht per se schlecht. Sie hat nur nicht das nötige Geld erhalten, das sie benötigt hätte. Organisatorisch hat sie es durchaus draufgehabt. Damals wollten die Länder die Infrastruktur nicht übernehmen. Im Gegenzug hat man nun keinen Einfluss darauf, wie das Netz in Schuss gehalten wird. Die Bundesregierung hat auf die Anfrage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut erklärt, allein in Baden-Württemberg würde sich der Sanierungsbedarf am Netz auf 15 Milliarden Euro summieren.
Geld allein wird es richten?
Lieb: Wir brauchen mehr Mittel. Der Bund finanziert derzeit nur verspätungserhaltende Infrastruktur, aber keine, die es erlauben würde, Verspätungen wieder abzubauen. Jede Autobahn hat einen Standstreifen. Bei der Eisenbahn glaubt man, ohne diese Resilienz auszukommen. Bundesweit sind im Zeitraum von 1999 bis 2023 rund 15 Prozent mehr Züge unterwegs gewesen Die Länge des Schienennetzes ist um zehn Prozent geschrumpft und die Zahl der Weichen um 34 Prozent. Auf einem kleineren Netz fahren immer mehr Züge mit immer weniger Flexibilität. (GEA)
ZUR PERSON
Matthias Lieb ist seit Oktober der »Qualitätsanwalt für die Fahrgäste in Baden-Württemberg«. Der Mathematiker kommt aus Mühlacker im Enzkreis. Lieb war, über 30 Jahre, ehrenamtlich für den Verkehrsclub Deutschland (VCD) tätig, 19 Jahre davon als Landesvorsitzender. (GEA)