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Neunjähriges Gymnasium schadet anderen Schulen

Viel Unruhe, höhere Kosten, niedrigeres Bildungsniveau: Die geplante Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium hat voraussichtlich Auswirkungen auf das gesamte Schulsystem in Baden-Württemberg. Was ist zu erwarten?

Das Bürgerforum fordert die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Bildungswissenschaftler sehen das kritisch.
Das Bürgerforum fordert die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Bildungswissenschaftler sehen das kritisch. Foto: Kultusministerium Baden-Württemberg
Das Bürgerforum fordert die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Bildungswissenschaftler sehen das kritisch.
Foto: Kultusministerium Baden-Württemberg

STUTTGART. Die Befürworter des achtjährigen Gymnasiums rüsten zum Gegenangriff. Nachdem Elterninitiative und Bürgerforum für die Rückkehr Baden-Württembergs zum neunjährigen Gymnasium getrommelt haben und auch die Landesregierung eingelenkt hat, melden sich nun Erziehungswissenschaftler zu Wort. Sie erwarten nichts Gutes von G9: viel Unruhe und hohe Kosten, aber keinen Gewinn. Im Gegenteil: Das allgemeine Bildungsniveau wird weiter sinken. Wie die Forscher darauf kommen und was sie stattdessen vorschlagen: ein Überblick.

Wie verändert G9 das Gymnasium?

Neun Jahre statt acht Jahre: Manche Eltern glauben, dass mehr Zeit das Lernen leichter macht. Wenn ihre Kinder am Ende der Grundschule auf der Kippe stehen, dann versuchen sie das Gymnasium. Dort gibt es dann mehr Schüler, die zudem ein Jahr länger bleiben. Das Leistungsniveau sinkt durch die schwächeren Schüler. Und die Frustration steigt, wenn die Kinder im Unterricht nicht mitkommen und an einen niedrigeren Schultyp wechseln müssen.

Was kostet G9?

Mehr Schüler, mehr Zeit: Das kostet. Wie viel genau, ist unklar - denn es gibt verschiedene Szenarien für die Rückkehr zu G9. Dennoch gibt der Landesrechnungshof eine Spannbreite an, in der die zusätzlichen Kosten sich voraussichtlich bewegen. Dort geht man von einem Mehrbedarf an 1.800 bis 3.166 Lehrerstellen aus, die mit 151 bis 266 Millionen Euro pro Jahr finanziert werden müssten. Hinzu kommen Ausgaben für extra Räume.

Woher das Geld fürs Gymnasium angesichts knapper Kassen kommen soll, ist umstritten. Der Landeselternbeirat etwa will nicht bei anderen Schultypen sparen, sondern mehr Geld ins System stecken. »Die Ressourcensteuerung im Landeshaushalt muss sich zugunsten des Bildungshaushalts verschieben«, findet Vorsitzender Kölsch. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht das genauso. »Wir brauchen dringend zusätzliche Ressourcen für Bildung: für Grundschulen und Kitas, aber auch für den weiterführenden Bereich«, sagt Landesvorsitzende Monika Stein. Dafür will die GEW die Schuldenbremse abschaffen. Diese Forderung scheitert jedoch höchstwahrscheinlich am Ampel-Koalitionspartner FDP. Darum geht in Politik und Wissenschaft die Sorge um, dass Mittel für G9 an anderer Stelle im Schulsystem eingespart werden.

Warum senkt G9 das Bildungsniveau?

Die Rückkehr von G8 zu G9 betrifft nicht nur das Gymnasium, sondern das ganze Schulsystem. Hier befürchten Bildungswissenschaftler eine Verschlechterung des allgemeinen Bildungsniveaus. Thorsten Bohl etwa warnt vor einer falschen Richtungsentscheidung. »Die Wiederbelebung des neunjährigen Gymnasiums verhindert die wirklich wichtigen Veränderungen in der Schullandschaft«, kritisiert der Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. Und fordert: »Nicht das Gymnasium, sondern das untere Leistungsdrittel der Schülerschaft muss im Mittelpunkt von Reformen stehen.« Ein Drittel der deutschen Schüler erreicht beim Lesen, Schreiben und Rechnen nicht den Mindeststandard, das hat die Pisa-Studie zuletzt wieder gezeigt. Die Folgekosten sind laut Bohl enorm: »Den jungen Menschen fehlen die Basiskompetenzen für ein gelingendes Leben. Die Wirtschaft verliert qualifizierte Arbeitskräfte. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und sozialer Frieden sind gefährdet.« Dem entgegenwirken will Bohl mit verpflichtendem Sprachtest und verbindlicher Sprachförderung im vorschulischen Bereich und mit der Stärkung von Basiskompetenzen in Grundschulen. Dafür fehlen seiner Ansicht nach derzeit Lehrer und Räume, die das neue G9 für sich beanspruchen würde. »Beides kann das Land nicht leisten.«

Mit seinem Plädoyer für die Stärkung der Sprach- und Basisfähigkeiten in Kitas und Grundschulen liegt Bohl auf einer Linie mit der grün-schwarzen Landesregierung. »Diese Koalition konzentriert sich auf die Kita und die Grundschule«, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). »Das gilt auch für die Ressourcen.« Im Beschluss der Koalition heißt es dazu: »Die prioritäre bildungspolitische Aufgabe sieht die Regierungskoalition in der Stärkung der Sprachbildung sowie der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen.« Dafür werde man ein Maßnahmen-Paket für den Zeitraum vor der Einschulung und in der Grundschule vorlegen.

Warum schadet G9 anderen Schulformen?

Die Rückkehr zu G9 hat Auswirkungen auf alle anderen Schulformen. Denn sie leitet Schüler, Lehrer und Geld um. Kitas und Grundschulen werden - wie bereits erwähnt - durch G9 wohl finanziell geschwächt. Aber auch inhaltliche Eingriffe sind zu erwarten. Viele Experten fordern eine stärkere Schülerlenkung. Seitdem die grün-rote Landesregierung 2012 die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft hat, können die Eltern selbst entscheiden, auf welche Schule ihre Kinder gehen sollen. Zuletzt wechselten 45 Prozent der Viertklässler ans Gymnasium – mit dem vermeintlich leichteren G9 könnte die Tendenz steigen. Um einen Ansturm zu verhindern, schlägt das Bürgerforum einen Leistungstest am Ende der Grundschule vor. Die Schulwahl hängt dann von drei Faktoren ab: Lehrerempfehlung, Elternwunsch und Test. Zwei Faktoren geben den Ausschlag. Den Test befürworten auch Landeselternbeirat und mitregierende CDU.

An Realschulen könnte G9 einen vorhandenen Effekt verstärken: Tausende Kinder wechseln trotz Realschulempfehlung aufs Gymnasium. Wird G9 als einfacher empfunden, könnte das zunehmen. Genau diese leistungsstarken Schüler fehlen dann den Realschulen - jedenfalls vorerst. Denn bringen Kinder die geforderte Leistung nicht, kommt es zur »Abschulung«: Unter Notendruck wechseln Gymnasiasten auf die Realschule. »Das bringt Unruhe ins System und Herausforderungen im emotional-sozialen Bereich«, beklagt Gerhard Brand, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). »Frustrierte und demotivierte Schüler mit der Erfahrung des Scheiterns ins Klassengefüge zu integrieren, fordert unsere Schulen schon jetzt enorm heraus.« Diese Belastung werde durch G9 verstärkt. Darum wirbt der VBE für die Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung.

Damit Gemeinschaftsschulen funktionieren, braucht es Erziehungswissenschaftler Bohl zufolge 30 Prozent leistungsstarke Schüler. Denn nur mit guter Durchmischung gelingt gemeinsames Lernen. In der Praxis klappt das aber nicht, da gehen vor allem Kinder mit Hauptschulempfehlung auf Gemeinschaftsschulen. Mit dem neuen G9 könnten noch mehr starke Schüler aufs »bessere Gymnasium« abwandern.

Haupt- und Werkrealschulen sind am wenigsten durch G9 betroffen. Dennoch erwartet VBE-Chef Brand, dass »abgeschulte« Kinder »vom Gymnasium über die Realschule bis an die Werkreal- und Hauptschule durchgereicht werden und entsprechend frustriert und demotiviert an die Schule kommen«.

Auch beruflichen Schulen schadet G9, warnt Thomas Speck. Der Landesvorsitzende des Berufsschullehrerverbands erwartet mit G9 ebenfalls mehr Schüler am Gymnasium. »Das heißt dann leider noch mehr Akademisierung und noch weniger berufliche Bildung«, sagt er. »Immer weniger junge Menschen werden sich für eine berufliche Ausbildung entscheiden.« Dabei liefere diese den dringend nötigen Nachwuchs für viele Berufe. Speck verweist zudem auf einen weiteren Effekt: G9 könnte von anderen Schularten nicht nur Schüler abwerben, sondern auch Lehrer. »Berufliche Schulen und allgemeinbildende Gymnasium suchen ihren Nachwuchs im gleichen Topf«, erklärt er. »Sollten die Personen im Ausbau von G9 eingesetzt werden, fehlen unseren Schülern die Lehrkräfte.« Damit drohten »katastrophale Bedingungen«.

Wie sieht das ideale Schulsystem aus?

In Baden-Württemberg moniert Erziehungswissenschaftler Bohl ein »großes Durcheinander« der Schularten. Keine Schulart habe ein klares Profil. Auch das Gymnasium nicht. Ist es Volksschule oder Vorbereitung auf die Universität? »Zwischen diesen beiden Polen wird das Gymnasium zerrissen«, kritisiert Bohl. Und fordert: »Wir brauchen eine klare Struktur im Schulsystem.« Als Vorbild empfiehlt er Hamburg. Die Hansestadt ist der deutsche Bildungsaufsteiger des vergangenen Jahrzehnts. Gelungen ist das mit einem zweigliedrigen Schulsystem: Neben G8 gibt es die Gemeinschaftsschule. Sie bietet das Abitur nach neun Jahren an und wird auch von Schülern mit Gymnasialempfehlung angenommen. Für den Unterricht sind die Schüler teils gemischt, teils nach Leistungsgruppen getrennt. Unterstützung kommt von Sozialpädagogen sowie Spezialisten für Lese- und Rechtschreibschwäche. (GEA)