STUTTGART. Bevor der ehemalige Nato-Stabschef Hans-Lothar Domröse beim Stuttgarter Messegespräch zum Zug kommt, tritt Matthias Kleinert ans Rednerpult. Der Staatssekretär a.D. blickt auf ein langes Leben zurück. 85 Jahre alt ist er nun, und schon als kleiner Junge hat er »Grauenhaftes gesehen«. 1938, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, kam Kleinert zur Welt. Er hat Bombenangriffe erlebt, er hat gesehen, wie Menschen erschossen wurden. Er musste von Schlesien nach Süddeutschland flüchten, er hat den Kalten Krieg erlebt – »und jetzt haben wir wieder Angst«, sagt der ehemalige »Daimler-Außenminister«. Neben den beiden Stuttgarter Messechefs ist er Mit-Veranstalter der Gesprächsreihe »Auf den Punkt«.
Hans-Lothar Domröse kann da nur wenig Entwarnung geben. Denn die Gegner der EU-Staaten sind mächtig und aggressiv, und das Verhältnis zueinander ist schlechter geworden. »Russland ist unsere größte Gefahr in Sicherheitsfragen, China ist es wirtschaftlich«, steht für den General a.D. fest. Immerhin: »Die nächsten zehn Jahre wollen die Chinesen keinen Krieg«, ist er trotz der Taiwan-Krise sicher. »Dieses Risiko gehen sie gegen die bis an die Zähne bewaffneten Amerikaner nicht ein.« Zudem er ist überzeugt davon, dass Chinas Staatschef Xi Jinping den russischen Präsidenten Wladimir Putin braucht, »und Putin braucht Xi«. Doch China sei gelassen und agiere nach dem Prinzip: killing me softly (töte mich sanft). »Die Chinesen werden so aufrüsten, dass sie in zehn Jahren gleich oder stärker als die USA sind«, so seine Einschätzung.
China hat Geduld
Auch wirtschaftlich zeichne sich diese Entwicklung ab. Noch seien die USA weltweit die stärkste Volkswirtschaft. Aber in den 2030er-Jahren werde China diese Spitzenposition einnehmen. Domröse: »Wir gehen ins chinesische Jahrhundert!« Das enge Zusammenrücken von Russland und China bereite ihm vor dem Hintergrund des Taiwan-Konflikts große Sorge. Zumal die USA durch den 1979 vereinbarten Relations Act politisch eng mit Taiwan verbunden und zur Hilfe verpflichtet sei.
Dass der Ukraine-Krieg ein schnelles Ende findet, glaubt der Militärexperte nicht. Der Kampf um Bachmut sei eine Tragödie. Rund 200 000 Soldaten soll Russland laut geheimen, aber dem ZDF zugespielten US-Geheimdienstpapieren bereits an Toten oder Verletzten haben. Auch die Ukraine soll Verluste in sechsstelliger Zahl haben. »Sie verbluten dort Meter um Meter«, so Domröse. Dies lässt selbst einen hartgesottenen Vier-Sterne-General nicht kalt. »Ich staune, dass eine Weltmacht wie Russland in Bachmut nicht vorankommt.« Trotzdem spielten Putin und Wolodymyr Selenskyj nach wie vor »ein Nullsummenspiel« und beharrten auf Entweder-Oder-Positionen. Ein Kompromiss beziehungsweise ein Waffenstillstand sei deshalb nicht in Sicht. »Die Verhandlungen gehen erst dann los, wenn beide erkennen, dass in diesem Krieg auf Dauer kein Gewinn möglich ist.« Damit rechnet der 70-Jährige erst, »wenn die Munition ausgeht«. Dies sei frühestens Ende 2023 der Fall. Auch eine große Frühjahrsoffensive erwartet Domröse nicht mehr. Die Ukraine sei allenfalls in der Lage, »mit Hilfe westlicher Waffen einige Dörfer zu befreien«. Der Ex-General: »Einen großen Gegenschlag sehe ich nicht.«
Düstere Prognose
Auf Deutschland aber kommen schwere Zeiten zu. Zum einen, da sich die EU-Länder immer wieder auseinanderdividieren lassen. Jüngstes Beispiel: der Auftritt von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Peking. Der hatte dort gesagt, in der Taiwan-Frage solle Europa kein Mitläufer der USA sein. Für CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen kommt dies einem »außenpolitischen Desaster für Europa« gleich. Ein Angriff auf Taiwan werde wahrscheinlicher, je mehr Xi glaube, Europa bleibe neutral. Auch Domröse meint: »Die Chinesen feiern Macron jetzt als Säulenheiligen.« Zum anderen betont der gebürtige Hannoveraner: Deutschland müsse bei der Wirtschaft und bei der Energie viel unabhängiger werden von anderen Staaten. Auch die eigene Verteidigungsfähigkeit gelte es, massiv auszubauen. All dies werde viel Zeit in Anspruch nehmen und teuer sein. Deshalb lautet seine düstere Prognose: »Nach der Ära des Überflusses geht es für uns in eine Ära des Mangels.« (GEA)