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Menschen im Südwesten verlieren das Vertrauen ineinander

Ein Virus mag klein sein, aber glaubt man einer neuen Studie, hat es die Macht, eine Gesellschaft zu zersetzen: Das Gemeinschaftsgefühl im Südwesten ist unter Druck geraten.

Studie
Eine Bertelsmann Studie zu Corona-Spuren in der Gesellschaft wird im Landtag präsentiert. Foto: Bernd Weißbrod
Eine Bertelsmann Studie zu Corona-Spuren in der Gesellschaft wird im Landtag präsentiert.
Foto: Bernd Weißbrod

Baden-Württemberg, Frühjahr 2020: Die Menschen bleiben wie überall in Deutschland aus Verantwortungsgefühl zu Hause. Sie gehen füreinander einkaufen. Sie applaudieren für Pflegekräfte und musizieren auf ihren Balkons. Man hatte den Eindruck, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nie stärker war, als in jenen Tagen der ersten Corona-Welle. Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt für den Südwesten, wie sehr die Jahre der Pandemie die Fliehkräfte in der Gesellschaft verstärkt haben. Die Menschen haben das Vertrauen verloren - in die Politik, aber auch ineinander.

Was genau wurde untersucht?

Die Autoren der Studie messen den Zusammenhalt der Gesellschaft seit einigen Jahren mit einem selbst entwickelten Index auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten. Der Index setzt sich aus neun Elementen zusammen, etwa dem Vertrauen in Mitmenschen, der Akzeptanz von Diversität und gesellschaftlicher Teilhabe. Bei der letzten Untersuchung 2019, also noch vor Ausbruch der Pandemie, lag der Index für den Südwesten bei 64 Punkten - auch in den Vorjahren schwankte der Wert in dem Bereich. Bei der jüngsten Erhebung allerdings - mitten in der Delta-Phase, von Dezember 2021 bis Januar 2022 - lag er nur noch bei 54 Punkten. Mehr als 2700 Menschen im Land über 16 Jahren wurden befragt.

Was sind konkrete Ergebnisse der Studie?

Zusammenhalt in Nachbarschaft - Vor der Pandemie betrachteten 42 Prozent der Befragten den gesellschaftlichen Zusammenhalt als gefährdet, gleichzeitig sprachen ganze 80 Prozent aber von einem guten Zusammenhalt in der Gegend, in der sie selbst wohnen. Dies hat sich radikal geändert: Nach der Pandemie sehen 48 Prozent der Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt als gefährdet an, genauso viele (47 Prozent) sehen aber auch den Zusammenhalt in ihrer eigenen Nachbarschaft bedroht. »Das rückt ihnen auf die Pelle«, sagte einer der Autoren, Klaus Boehnke, von der Jacobs University Bremen.

Verschwörungstheorien - Das Potenzial für Verschwörungstheorien in der Bevölkerung ist der Studie zufolge deutlich gewachsen. 42,4 Prozent der Menschen im Südwesten stimmen der Aussage zu, die Regierung verschleiere die Wahrheit. 53,7 Prozent sind der Meinung, Politiker gäben keine Auskunft über ihre wahren Motive. 32,1 Prozent glauben daran, dass geheime Organisationen Einfluss auf Entscheidungen haben. Und für 26,6 Prozent sind Ereignisse häufig Ergebnis geheimer Aktivitäten.

Identifikation - Besonders die Identifikation mit dem Gemeinwesen ist zurückgegangen. Der Wert lag auf der 100er-Skala im Südwesten 2019 noch bei 81,7 und ist nun auf 61,7 abgefallen. Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Befragten fühlen sich mit Wohnort oder Bundesland verbunden. »Da ist was ins Rutschen geraten«, sagte Boehnke.

Jugend - Was die Lage der Jugend angeht, sind mehr als 40 Prozent der Befragten zwar der Auffassung, die Situation in der Wohngegend habe sich in der Pandemie für Jugendliche verschlechtert. Die Lebenszufriedenheit junger Menschen ist dennoch höher als bei älteren Menschen. Sie blicken der Studie zufolge trotz allem optimistischer als Ältere in die Zukunft. Jüngere haben die Corona-Pandemie aber als belastender erlebt.

Vertrauen - Vor der Pandemie haben nur knapp neun Prozent der Aussage zugestimmt, dass man sich auf niemanden mehr verlassen könne. Mittlerweile stimmen 24 Prozent der Befragten zu - fast jeder Vierte.

Was bedeutet das alles?

»Wir waren relativ geschockt«, sagte Boehnke über den Rückgang des Zusammenhalts. Viele Menschen hätten in der Pandemie das Gefühl gehabt, die Politik vernachlässige sie. »Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in nahezu allen Dimensionen seit 2019 zurückgegangen«, bilanzierte Gesundheits- und Sozialminister Manne Lucha. Der Grünen-Politiker berichtete von mehr Konflikten und mehr psychosozialen Belastungen. Viele soziale Beziehungen seien in der Corona-Zeit ins Wanken geraten. Besonders betroffen seien Alleinerziehende, chronisch Kranke oder Menschen mit geringerer Bildung, geringem Einkommen und ohne Arbeitsplatz.

Das wird sich nach Einschätzung aus Politik und Wissenschaft auch künftig nicht bessern. »Die Krise wird zum Normalzustand«, sagte Lucha. »Wir sind überzeugt, dass das nicht schnell wieder nach oben schwingt«, sagte Boehnke. Im Gegenteil: »Das geht noch weiter runter.«

Was sind die Konsequenzen?

Die Forscher mahnten den Kampf gegen Verschwörungserzählungen ebenso an wie eine verlässlichere politische Kommunikation. Vereinsleben und soziale Veranstaltungen müssten unterstützt und Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Lucha sagte, dass insbesondere vulnerable Gruppen unterstützt werden müssten. Ehrenamt, medizinische Versorgung und gesellschaftlicher Zusammenhalt müssten wieder gestärkt werden.

Ergebnisse der Studie online

© dpa-infocom, dpa:220920-99-836204/5