Mehr muss es sein, schneller muss es werden und Kosten dürfen keine Rolle spielen: Auf dem Weg zur Klimaneutralität ist das Land bislang bei weitem nicht schnell genug unterwegs, kritisiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer neuen Studie. Im Auftrag der Oppositionspartei SPD hatte es untersucht, ob der Südwesten seine ambitionierten Klimaschutzziele für Gebäude, den Verkehr und die Energieerzeugung erreichen kann. »Ja, aber nicht so«, könnte die Antwort verkürzt lauten.
Notwendig ist laut DIW »eine Vervielfachung aktueller Anstrengungen«, damit das Land wie geplant fünf Jahre vor der Bundesebene und zehn Jahre vor der Europäischen Union im Jahr 2040 klimaneutral werden kann. Es dürfen dann also nur noch so viele Treibhausgase ausgestoßen werden, wie wieder gebunden werden können. Das DIW rechnet mit Investitionen von mehr als 130 Milliarden Euro allein für die untersuchten drei Themenfelder - und ohne die um ein Vielfaches teurere Umstellung des wesentlichen Kostentreibers, der Wirtschaft. Laut Studie sind zudem fast 200.000 zusätzliche Fachkräfte und eine ehrliche Bundes- und auch Landespolitik der »offenen Karten« nötig, die weder Aufwand noch Kosten verschleiere.
»Wir haben keine Zeit mehr. Die Emissionen müssen sinken - und zwar schnell«, sagte Claudia Kemfert, DIW-Expertin für Energie- und Klimaökonomie. »Die bisher realisierten und geplanten, landespolitischen Maßnahmen genügen nicht.« In der Studie wird vor allem die deutlich intensivere Sanierung und der Austausch von Heizsystemen in Gebäuden gefordert, der motorisierte Verkehr auf den Straßen müsse schneller auf Elektro umgestellt und die Erzeugung von erneuerbaren Strom und Wärme ausgebaut werden. Für die meisten Veränderungen könne die Politik aber nur den Rahmen schaffen. Leisten - und zahlen - müssten die Umstellungen vor allem nicht-staatliche Akteure wie Haushalte, Privatpersonen und Unternehmen, sagte Kemfert.
Was bedeutet das Klimaneutralitätsziel in 2040 für die Sektoren Gebäude, Verkehr und Strom- und Wärmeerzeugung?
Mit einem Anteil von etwa 23 Prozent ist der Gebäude- nach dem Verkehrssektor die zweitgrößte Emissionsquelle. Die jährliche Sanierungsrate müsste laut DIW-Studie von derzeit 1 auf 3,8 Prozent steigen. Dann werde etwa jedes dritte Gebäude - rund 1,5 Millionen Wohneinheiten und 50.000 Nicht-Wohngebäude - bis 2030 saniert. Rund 900.000 Gebäudeheizsysteme müssten installiert, der Anteil von Öl und Gas an der Wärmeerzeugung um 30 Prozent oder 320.000 Öl- und Gasheizungen verringert werden. Die Kosten schätzt das DIW bis 2030 auf rund 70 Milliarden Euro. Probleme: Eigentümer müssten sich eng abstimmen, eine Umlage der Sanierungskosten für Vermieter ist nur begrenzt möglich und das Angebot an Dämmmaterialien, Holz und Wärmepumpen eingeschränkt.
Im Verkehrssektor wird das Reduzieren von CO2-Emissionen am schwersten durchzusetzen sein, fürchtet das DIW. Problematisch sind die schweren Lastwagen im Güterverkehr und die Umstellung auf Elektroautos. Ziel müsse es sein, den Personenverkehr auf den Straßen um ein Zehntel zu reduzieren und den Pkw-Anteil am Personenverkehr von 86 auf 72 Prozent zu senken. Laut Studie müssen jährlich mindestens 85.000 batterieelektrische Autos (ohne Plug-In Hybrid) sowie 5000 bis 6000 batterieelektrische leichte Lkw neu zugelassen werden, begleitet durch den jährlichen Zubau von etwa 10.000 öffentlichen Ladepunkten. Das Transportaufkommen im regionalen Schienen- und Busverkehr muss um 10 Prozent pro Jahr steigen, der ÖPNV zudem schnell elektrifiziert werden. Geschätzte Kosten: 33 Milliarden Euro.
In der Erzeugung von Strom und Wärme rät das DIW unter anderem, den Anteil der erneuerbaren Energien beim Strom auf 80 Prozent und in den Heizkraftwerken auf 78 Prozent zu erhöhen. Es müssten wesentlich mehr neue Wind- und Photovoltaikkapazitäten ans Netz gebracht werden, außerdem müssten die erneuerbare Wärmeerzeugung in Heizkraftwerken wie Biomasse, Tiefengeothermie und Wärmepumpen jährlich zulegen. Investitionsbedarf: rund 28 Milliarden Euro. Im Vergleich zu Gebäude und Verkehr lassen sich die Investitionen laut DIW aber am ehesten realisieren, weil Investoren Gewinne erzielen können und die PV-Pflicht auf Dächern bereits vollumfänglich greift.
Über allem steht der Fachkräftemangel, warnte zudem SPD-Fraktionschef Andreas Stoch. Es könnten alle Voraussetzungen für die Klimaneutralität erfüllt sein, aber »wenn's Ihnen niemand umsetzt, wird's nichts«, sagte Stoch. Nach Schätzungen des DIW liegt der Bedarf im Gebäudesektor bei zusätzlichen 110.000 Fachkräften, der Nahverkehr benötigt 15.000 weitere Mitarbeiter, bei der Strom- und Wärmeerzeugung geht die Studie von zusätzlichen 60.000 Fachkräften aus, das wären doppelt so viele wie derzeit. Stoch forderte Anreize und Fördermaßnahmen, das Land habe momentan ausreichend Geld und dürfe sich nicht hinter der Schuldenbremse verstecken.
Mit seiner Kritik steht das DIW nicht allein. Zuletzt hatte auch der Sachverständigenrat Nachbesserungen und weitere Anstrengungen eingefordert. Das Gremium aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern soll die Landesregierung etwa beim geplanten Ausbau der Windkraft und im Kampf gegen den Klimawandel beraten sowie beim Monitoring der Maßnahmen mitwirken.
Studie »Baden-Württemberg auf dem Weg zur Klimaneutralität«
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