STUTTGART. Baden-Württemberg hingt beim Ausbau der Ganztagsschulen weiter hinterher. Im Zuge ihres im Mai vorgestelten Bildungspakets verkündete die grün-schwarze Landesregierung nun, derzeit ein Konzept für den Ausbau der Ganztagsgrundschulen zu erarbeiten. In einem ersten Schritt solle der verbindliche Ganztag an den für das Startchancen-Programm ausgewählten Grundschulen eingeführt werden. Doch ist dies überhaupt umsetzbar? Und wie schnell? Katrin Steinhülb-Joos, Landtagsabgeordnete und schulpolitische Sprecherin der SPD, sieht beim Thema Ganztag noch viel Handlungs- und Klärungsbedarf.GEA: Die Landesregierung möchte im Zuge des Startchancen-Programms die dafür ausgewählten Brennpunkt-Grundschulen zu Ganztagesschulen machen. Halten Sie dieses Vorhaben für machbar und wie bewerten Sie es?
Katrin Steinhülb-Joos: Zunächst einmal begrüße ich das Startchancen-Programm des Bundes ausdrücklich. Schon in meiner Zeit als Schulleiterin habe ich gefordert, dass Schulen mit besonderen Herausforderungen mehr Ressourcen erhalten. Die Landesregierung täte aber im Falle der im Zuge des Startchancen-Programms ausgewählten Grundschulen gut daran, Informationen erst dann transparent zu veröffentlichen, nachdem sie zuallererst mit den jeweiligen Schulleitungen kommuniziert werden. Viele der Startchancenschulen sind noch keine Ganztagsschulen in gebundener Form (Bei der gebundenen Ganztagsschule ist die Teilnahme an den Angeboten an mindestens drei Tagen/Woche verpflichtend, Anm. d. Redaktion) oder in Wahlform. Generell gibt es beim Thema Ganztag noch einiges aufzuholen, was in den letzten Jahren versäumt wurde. Dafür muss jedoch noch an entscheidenden Stellschrauben gedreht werden und ein politischer Wille zur Umsetzung erkennbar sein.
»Es ist nicht realistisch, dass alle Startchancen- schulen ad hoc umgebaut werden«
Und noch etwas: Auch andere Schulen außerhalb des Startchancen-Programms haben Schülerinnen und Schüler, die vom Ganztag profitieren würden. Und sie haben Eltern, die auf eine qualitätsvolle Betreuung angewiesen sind. Diese Schulen darf die Landesregierung nicht vergessen, zumal der Sozialindex eine riesengroße Lücke aufweist, lässt er doch Inklusion völlig außer Acht.
Wo sehen Sie die größten Probleme beim Vorhaben, die Startchancen-Grundschulen in Ganztagesschulen umzuwandeln?
Steinhülb-Joos: Die Mittel aus dem Investitionsprogramm Ganztagsausbau des Bundes müssen stärker flankiert werden. Das Land müsste hier seinerseits unterstützen, damit Schulen die räumlichen Voraussetzungen, wie etwa Mensabau, Erweiterungsbauten oder Ganztagesräume für einen Ganztagsbetrieb schaffen können. Daher ist es nicht realistisch, dass alle Startchancen-Schulen, die noch keine Ganztagsgrundschulen sind, ad hoc zu Ganztagsgrundschulen umgebaut werden. Darüber hinaus betone ich seit Jahren, dass wir für den Ganztag mehr Personal bereitstellen müssen, um mehr individuelle Förderung zu ermöglichen. Zudem benötigen wir einheitliche Qualitätsstandards. Das Personal muss entsprechend qualifiziert oder nachqualifiziert werden. Auch rechtliche Fragen, wie beispielsweise zur Gestaltung der Betriebserlaubnisverfahren, sind noch ungeklärt. Die Aufsicht über die Betreuungsangebote liegt aktuell sach- und fachfremd bei der überlasteten Schulaufsichtsbehörde. Hier muss die Landesregierung noch nachsteuern und Antworten liefern.
Die Ganztagesschulen in Baden-Württemberg werden seit Jahren weniger statt mehr. Woran liegt das und was müsste man tun, um den Trend umzukehren?
Steinhülb-Joos: Viele Schulträger empfinden die Umstellung zur Ganztagsschule aus den bereits beschriebenen Gründen als Belastung. Das Land müsste proaktiv über die Schulaufsicht gemeinsam mit dem Schulträger mögliche Standorte identifizieren, um dann mit Vertretern der Schulen in einen offenen Dialog zu gehen und bei der Umstellung auf den Ganztagsbetrieb vorangehen. Die Akteure des schulischen Lebens müssen von den Vorzügen des Ganztags überzeugt werden. Dies gelingt jedoch nicht, wenn sich die Landesregierung an dieser Stelle weiterhin so bedeckt hält und die Verantwortung für die Umsetzung den Kommunen zuschanzt.
Wollen die Eltern im Land überhaupt eine Ganztagesschule für ihre Kinder?
Steinhülb-Joos: Die Mehrheit der Eltern lehnt laut Umfragen eine vollgebundene Ganztagesschule ab. Ich persönlich plädiere darum für die Ganztagsschule in Wahlform. Hier können neben den voll gebundenen Ganztagesklassen auch eine Halbtagesklasse geführt werden, sofern man 16 Kinder zusammen bekommt. Der Rechtsanspruch ab 2026/2027 bezieht sich derweil lediglich auf die freiwillige ergänzende Betreuung bis zu 40 Stunden pro Woche sowie 10 Wochen Ferienbetreuung. Gleichzeitig bestätigen diverse Studien auch immer wieder, dass Eltern, deren Kinder im rhythmisierten Ganztag beschult werden, für die Förderung ihrer Kinder bessere Noten vergeben als Eltern, deren Kinder im Halbtag oder einer anderen Angebotsform beschult werden. Letztendlich ist es ganz einfach: Der Ganztag muss in seiner Ausgestaltung überzeugen, damit die Eltern überzeugt werden.
»Die Mehrheit der Eltern lehnt eine vollgebundene Ganztagesschule ab«
Für wie wichtig erachten Sie Ganztagesschulen generell?
Steinhülb-Joos: Ganztagesschulen sind ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit, weil sie mehr Lernzeit, individuelle Förderung sowie den Zugang zu außerschulischen Angeboten für alle Schülerinnen und Schüler ermöglichen. Dabei möchte ich betonen, dass der rhythmisierte Ganztag im Rahmen einer Ganztagsschule, der formelles und informelles Lernen ausgewogen ermöglicht unter Einbindung von Sport, Musik, Kunst und Kultur eine andere Qualität mit sich bringt als die unverbindliche ergänzende Betreuung, die mit dem Rechtsanspruch ab 2026 umgesetzt werden soll. Ich appelliere daher an die Landesregierung: machen Sie Ihre Hausaufgaben. Und vor allem: Nehmen Sie die Akteure des schulischen Lebens mit auf den Weg und forcieren Sie gemeinsam eine gute Umstellung auf einen Ganztagsbetrieb, der unseren Schülern bessere Bildung ermöglicht! (GEA)
ZUR PERSON
Katrin Steinhülb-Joos (58) ist seit 2021 Abgeordnete der SPD im baden-württembergischen Landtag und für ihre Fraktion als schulpolitische Sprecherin tätig. Die Lehrerin und spätere Schul-leiterin einer Gemeinschaftsschule wurde in Stuttgart-Bad Cannstatt geboren und hat drei erwachsene Kinder. (kali)