Es ist 6.08 Uhr an diesem Aprilmorgen, als gepanzerte Fahrzeuge in dem Örtchen Boxberg im Main-Tauber-Kreis vorfahren. Einsatzkräfte des Spezialeinsatzkommandos springen aus den Wagen, dringen über einen Zaun in ein Grundstück ein. Darin lebt ein Mann, der den Behörden als gefährlich gilt. Ein sogenannter Reichsbürger soll er sein. Die Beamten wollen seine Wohnung durchsuchen, ihm eine Pistole abnehmen, für die er keine Erlaubnis mehr besitzt. Nun, so fordert die Bundesanwaltschaft, soll der Mann lebenslänglich in Haft - wegen vierfachen versuchten Mordes.
Die Polizisten kündigen sich an dem Morgen an, sie rufen, Blaulicht blinkt, das Martinshorn dröhnt, so berichten die Beamten. Über die Terrasse wollen sie in die Wohnung gelangen. Die Rollläden sind verschlossen. Plötzlich bricht die Hölle los: Schüsse fallen, Fenster bersten. Ein Beamter wird in die Beine getroffen, sackt zusammen. Geschossteile schlagen auf Helme seiner Kollegen auf und auf einen Schutzschild.
Die Schüsse im badischen Boxberg erschüttern die Republik. Die Tat reiht sich ein in eine Serie von Angriffen von »Reichsbürgern« auf den Staat. »Reichsbürger« und sogenannte Selbstverwalter erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat an. Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet der Szene rund 23 000 Anhängerinnen und Anhänger zu - Tendenz steigend.
Der Boxberg-Prozess geht nun auf sein Ende zu. Am Mittwoch, nach fast 30 Verhandlungstagen, forderte die Bundesanwaltschaft nun eine lebenslange Freiheitsstrafe. Zudem wurde im streng gesicherten Prozessgebäude des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim Sicherungsverwahrung für den heute 55-Jährigen beantragt. Der Mann soll in Boxberg mit einem Schnellfeuergewehr auf die Polizeibeamten geschossen haben. Im Haus des Schützen fanden die Ermittler ein begehbares Waffenlager mit Gewehren und Maschinenpistolen, Tausenden Schuss Munition und Zubehör.
Der Angeklagte bestreite die Existenz der Bundesrepublik, berichtete die Vertreterin des Generalbundesanwalts am Mittwoch. Er habe die BRD lediglich als privatrechtliche Gesellschaft ohne Hoheitsrechte gesehen. »Er traf umfangreiche Vorkehrungen, um sich gegen staatliche Einflussnahme zu verteidigen«, sagte sie. Dabei habe er auch die Tötung von Polizeibeamten als legitim erachtet.
Der 55-Jährige habe sich seit 2015/2016 zunehmend radikalisiert und zeitgleich ein Waffenarsenal aufgebaut. Die zuständige Behörde habe ihm die Waffenerlaubnis für eine Pistole im Sommer 2021 entzogen. Der Mann habe sich aber geweigert, sie zurückzugeben. Nach Ablauf der Frist ordnete das Amt die Sicherstellung der Waffe an - und so rückte das Spezialeinsatzkommando an, um die Wohnung zu durchsuchen.
Laut Darstellung der Bundesanwaltschaft wollte der Angeklagte verhindern, dass seine Waffen gefunden und sichergestellt werden - und die Polizei von seinem Grundstück fernhalten. »Er stellte seine Überzeugung über die Gesundheit und das Leben der Polizeibeamten«, sagte die Vertreterin der Anklage.
Der Mann läuft demnach zunächst ins Wohnzimmer, gibt aus einem vollautomatischem Gewehr 21 Schüsse auf die Beamten auf der Terrasse ab. Als er keinen Polizisten mehr im Schussfeld sieht, so die Bundesanwaltschaft, läuft er ins Schlafzimmer und eröffnet von dort erneut das Feuer. Immer wieder wechselt er die Position. Die Polizisten flüchten vor dem Kugelhagel. Erst als er keine Möglichkeit mehr gesehen habe, Polizisten zu treffen, habe er den Notruf gewählt, um zu verhandeln. Die Bundesanwaltschaft spricht von einer »massiven Gewaltbereitschaft«.
Die Anklage zeichnet das Bild eines überforderten Menschen, der kurz vor der Tat seine Arbeit in der Sicherheitsbranche verlor und aus dem Schützenverein flog. Der Angeklagte selbst wirkt am Mittwoch gelassen. Immer wieder schüttelt er beim Schlussvortrag der Bundesanwaltschaft empört den Kopf. Seine Version der Dinge glaubt die Bundesanwaltschaft nicht: Der Angeklagte gibt zwar zu, geschossen zu haben, ihm sei aber nicht bewusst gewesen, wer draußen stehe. Ihn hätten Explosionen, Schüsse und Schreie geweckt, er habe nur seinen kranken Sohn schützen wollen. Dann habe er einen Filmriss gehabt.
Der Angeklagte habe »regelrecht Jagd auf Polizeibeamte gemacht«, sagte die Vertreterin der Bundesanwaltschaft. Lediglich dem Zufall sei es zu verdanken, dass es nicht zu tödlichen Verletzungen gekommen sei. In der Verhandlung hätten sich die Tatvorwürfe in vollem Umfang bestätigt. Nächste Woche wird das Plädoyer der Verteidigung erwartet.
Verfassungsschutz Baden-Württemberg über »Reichsbürger« und »Selbstverwalter«
© dpa-infocom, dpa:231017-99-599253/8