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Land fördert »Housing First« für Wohnungslose

Die Zahl der Menschen ohne Wohnung nimmt in Baden-Württemberg weiter zu, aber es gibt kaum passende Räume für sie. Sechs Projekte im Land gehen auf der beschwerlichen Suche einen neuen Weg.

Stadtansicht Stuttgart
Hausdächer sind in einem Innenstadtbezirk von Stuttgart zu sehen. Foto: Marijan Murat/DPA
Hausdächer sind in einem Innenstadtbezirk von Stuttgart zu sehen.
Foto: Marijan Murat/DPA

Zehntausende Menschen in Baden-Württemberg leben auf der Straße oder haben zumindest keine Wohnung, in der sie sicher und langfristig leben können. In Rekordzahl suchen sie die Hilfsdienste auf, denn die Preise steigen schneller als die freien Wohnungen, bezahlbare Angebote gibt es kaum noch. Land und Kommunen setzen deshalb auf ein neues Konzept, das aus den USA stammt: Housing First, was übersetzt in etwa »Erstmal Wohnen« bedeutet. Zuerst, so der Gedanke, brauchen Obdachlose eine Wohnung. Dann können alle weiteren Probleme angegangen werden.

Sechs Modellprojekte sollen nun vom Land und der Vector Stiftung in den kommenden drei Jahren mit insgesamt rund 1,6 Millionen Euro gefördert werden. Es ist ein Tropfen auf dem heißen Stein: Mit den Projekten wird versucht, insgesamt rund 80 Wohnungen zu finden. Im Südwesten leben aber nach Angaben des Sozialministeriums rund 76.500 wohnungslose Menschen (Stand Januar 2023). »Damit lösen wir nicht die Gesamtkomplexe des Wohnungsmangels, aber wir entlasten und helfen in dem Personenkreis, der am meisten Lobbyismus und Solidarität braucht«, sagt Sozialminister Manne Lucha (Grüne).

Erste Erfahrungen mit dem Absatz sind gut

Es gibt bereits erste Erfahrungen in der Region mit dem neuen »Housing First«-Ansatz, bei dem nicht zunächst alle anderen Probleme der wohnungslosen Menschen aus dem Weg geräumt werden und dann erst eine Bleibe gesucht wird. In Stuttgart wurden bei einem Projekt 17 ehemals wohnungslose Haushalte in unbefristete Mietverhältnisse vermittelt. »Kein einziger Mieter musste bislang rausgehen«, sagt Edith Wolf von der Vector Stiftung. Die nun vom Land und der Stiftung geförderten Ideen stammen unter anderem aus Herrenberg, Esslingen und der Region Biberach-Schussental, aus Reutlingen und Heidelberg.

Freiburger Projekt will Frauen mit Gewalterfahrungen helfen

In Freiburg wird zudem das Projekt »Hila - Housing First für Frauen« unterstützt, das das Diakonische Werk für wohnungslose Frauen mit Gewalterfahrung auf die Beine gestellt hat. Durch das Geld wird dort etwa die Arbeit einer Krankenschwester, einer Hausmeisterin und von zwei Sozialarbeiterinnen finanziert. Wichtig sei vor allem aber die Suche nach geeigneten Wohnungen auf einem enorm angespannten Markt sowie das Betreuen bei den ersten Schritten auf dem neuen Weg, sagt Projekt-Mitarbeiterin Paula Tümpel.

Die Gruppe der Betroffenen sei groß. Etwa ein Drittel der wohnungslosen Menschen in Deutschland seien Frauen, von denen wiederum 90 Prozent Gewalterfahrungen gemacht hätten. »Die bestehenden Angebote der Gewalthilfe stoßen bei wohnungslosen Frauen teilweise aber an ihre Grenzen«, sagt Tümpel. In der Wohnungslosenhilfe wiederum könnten Gewalterfahrungen nicht immer behandelt werden.

Ziel des Hila-Projektes ist es zunächst, ab Juni zehn Wohnungen zu vermitteln. »Das ist eine absurd kleine Zahl angesichts der steigenden Zahl von wohnungslosen Frauen«, sagt Tümpel.

Der Wohnungsmarkt ist angespannt

Ein gemeinsames Problem haben alle sechs »Housing First«-Projekte: Es gibt keine passenden Wohnungen. Nach Schätzungen des Branchenverbandes der Bauwirtschaft fehlen allein in Baden-Württemberg rund 70.000 Sozialwohnungen. Längst sind nicht nur große Städte wie Stuttgart oder Freiburg davon betroffen, auch in kleineren Kommunen fehlt es an bezahlbarem und sozial gefördertem Wohnraum, für den auch wohnungslose Menschen infrage kämen.

Wenn sich dann doch mal eine Wohnung anbietet, haben es Obdachlose als Kandidaten schwer. Zum einen konkurrieren Studierende, Alleinerziehende und Geringverdienende um die wenigen günstigen Wohnungen. Zum anderen gibt es zahllose Vorurteile, sagt Tümpel. Hier sollen die Mitarbeiter der Projekte unter anderem als »Makler« auftreten und Kontakte knüpfen.

Sozialminister Lucha setzt bei der Suche nach Wohnungen unter anderem auf »verdeckte Reserven«, also auf leerstehende Wohnungen, die nicht auf dem Markt seien und durch Öffentlichkeitsarbeit und direkte Ansprache gewonnen werden könnten. Edith Wolf verweist zudem auf einen »unheimlich aufgeblähten Übergangswohnungsmarkt, auf dem wohnungslose Menschen befristete und an Bedingungen geknüpfte Wohnsituationen haben«. Sie sieht ein riesiges Potenzial, würden diese Bedingungen gelöst. »Und natürlich müssen wir bauen, bauen, bauen«, sagt sie.

Der Unterschied zwischen obdachlos und wohnungslos

Allgemein wird unterschieden zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit. Wohnungslos sind Menschen, die nicht über eine eigene Wohnung mit Mietvertrag verfügen. Damit landen sie aber nicht gleich als obdachlos auf der Straße. Viele Wohnungslose kommen zunächst bei Bekannten oder Freunden unter.

Vector Stiftung über Housing First

PM des Sozialministeriums zu Housing First

© dpa-infocom, dpa:240314-99-337792/3