Angesichts der Zahl von über 160.000 Geflüchteten und Migranten im Südwesten hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) für den 7. Dezember zu einem Gipfel geladen. Es solle vor allem um Fragen der Unterbringung und Integration der Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern gehen, sagte ein Regierungssprecher am Mittwoch auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) schlug per Brief Alarm beim Bund. »Angesichts der nach wie vor rapide ansteigenden Zahl von Schutzsuchenden sehen wir uns als Land - und insbesondere unsere Kommunen - aktuell und künftig mit einer ungeheuren Belastungssituation konfrontiert.« Berlin müsse darauf hinwirken, dass die Geflüchteten aus der Ukraine in der EU gerechter verteilt würden. Zudem sei nicht »verantwortbar«, per Sonderprogramm auch noch Menschen aus Afghanistan aufzunehmen.
Beim Gipfel im Neuen Schloss in Stuttgart sollen neben den zuständigen Ministerien und den Vorsitzenden aller Fraktionen im Landtag die kommunalen Spitzenverbände sowie Vertreter von Wirtschaft, Arbeitsagentur und aus der Zivilgesellschaft teilnehmen. Land und Kommunen hatten sich zuletzt auf die Verteilung der Kosten für Flüchtlinge verständigt. Das Land gibt 530 Millionen Euro für dieses und das nächste Jahr und reicht damit ungefähr 95 Prozent der jüngst vom Bund zugesagten Gelder an Städte und Gemeinden weiter. In diesem Jahr sind bisher knapp 140.000 Menschen aus der Ukraine nach Baden-Württemberg geflüchtet. Darüber hinaus kamen etwa 22.000 Asylsuchende in den Südwesten. Zum Vergleich: Frankreich hat knapp 120.000 Ukrainer aufgenommen.
Gentges schrieb an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): »Alle Ebenen unserer Aufnahme- und Ausländerverwaltung stehen am Rande ihrer Leistungsgrenzen.« Die Kommunen unterstützten die Warnung von Ministerin Gentges. Man sei ebenfalls der Meinung, dass es möglich sei zu verhindern, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits in anderen Ländern der EU Schutz gefunden haben, weiter nach Deutschland reisen, erklärten Joachim Walter für den Landkreistag sowie Steffen Jäger für den Gemeindetag und Ralf Broß für den Städtetag. Gentges verlangte vom Bund, es müsse möglich sein, dass Menschen innerhalb der EU auch zurückgeschickt werden könnten. »Entsprechende Bemühungen des Bundes vermag ich jedoch nicht im Ansatz zu erkennen.«
Mit Blick auf den Gipfel erklärten die Kommunen, es kämen derzeit viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in den Südwesten, was viele Probleme nach sich ziehe. »Für diesen Personenkreis plädieren die Kommunen für eine zentrale Landeserstaufnahmestelle in Trägerschaft des Landes«, hieß es. Es könne auch nicht angehen, dass diese Kinder und Jugendliche alle nach Heidelberg müssten, um das Alter feststellen zu lassen. Künftig sollten das die Jugendämter vor Ort klären. »Die Betreuung der jungen Geflüchteten muss Vorrang vor aufwendigen Bürokratismen haben.«
Gentges stemmt sich wegen der zugespitzten Lage gegen das neue Aufnahmeprogramm des Bundes für besonders gefährdete Afghanen. »Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten hohen Zugänge ist das nun verkündete Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan mit geplanten bis zu 1000 Menschen pro Monat aus Sicht des Ministeriums der Justiz und für Migration in keiner Weise verantwortbar«, schrieb die Ministerin an Faeser. Dafür erntete sie jedoch Widerspruch vom Koalitionspartner.
Daniel Lede Abal aus der Grünen-Fraktion verwies auf den Koalitionsvertrag, in dem »eine Flüchtlingspolitik auf der Grundlage von Menschlichkeit und Verantwortung« vereinbart sei. »Ich bin mir sicher, dass die Justizministerin dieser Verantwortung im Sinne des Koalitionsvertrages gerecht werden wird.« Die Grüne Jugend kritisierte Gentges' Haltung als »ernüchternd«. Die Sprecherinnen der Jugendorganisation im Südwesten, Aya Krkoutli und Elly Reich, sagten: »Es ist in keiner Weise verantwortbar, die Menschen in Afghanistan im Stich zu lassen. Es muss unser aller Ziel sein, verfolgten und bedrohten Menschen Schutz zu bieten.«
Das Innen- und Außenministerium in Berlin hatten Mitte Oktober den Start des Programms verkündet, mit dem man auf die schwierige humanitäre Lage seit der Machtergreifung der militant-islamischen Taliban im August 2021 reagierte. Profitieren sollen demnach afghanische Staatsangehörige in Afghanistan, die sich für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt haben oder wegen ihrer Tätigkeit in Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders gefährdet sind; auch Menschen, die wegen ihres Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität, ihrer Religion oder wegen besonderer Umstände des Einzelfalles verfolgt werden.
Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan
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