Die demokratischen Parteien müssen nach Worten von Ministerpräsident Winfried Kretschmann stärker in die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen der AfD gehen. Vieles, was deren Vertreter sagten, könne Demokraten nur empören, sagte der Grünen-Politiker am Dienstag in Stuttgart. Aber: »Es hat sich gezeigt, dass das nicht reicht.« Man müsse die AfD nun stellen. Die Politik müsse mit den potenziellen Anhängern der Partei ins Gespräch kommen. Wenn Tabus gebrochen würden, seien es keine Tabus mehr, so Kretschmann. So zeige sich bei der Begegnung von Schulklassen mit AfD-Politikern, dass die Distanz abnehme.
Die Serie der Kundgebungen gegen rechts hält auch im Südwesten an. Am Dienstag waren erneut Proteste geplant, sie dürften aber in Rottenburg und Heilbronn kleiner ausfallen als dies zuletzt in anderen Städten der Fall war. In Rottenburg verbinden die Veranstalter die Kundgebung mit dem Gedenken an den früheren württembergischen Staatspräsidenten und Ehrenbürger der Stadt, Eugen Bolz, der 1945 durch die Nationalsozialisten hingerichtet wurde. Die Veranstaltung wird von der Stadtverwaltung, der Stiftung und der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie 70 weiteren Vereinen, Institutionen und Parteien unterstützt.
Daraufhin hatten am Wochenende im Südwesten nach Zählungen von Polizei und Veranstaltern mindestens 110.000 Menschen gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie demonstriert. Die Versammlungen blieben nach Angaben der zuständigen Polizeipräsidien friedlich. Demonstrationen etwa in Hamburg und München waren in den vergangenen Tagen gar wegen Überfüllung abgebrochen worden.
In Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden im September neue Landtage gewählt. Umfragen zufolge könnte die AfD in allen drei Bundesländern teilweise mit deutlichem Abstand stärkste Kraft werden.
Kretschmann sagte, er beurteile die Demonstrationen außerordentlich positiv. Es handele sich um Proteste, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden seien. Die Demos seien ein wichtiges, aber auch notwendiges Zeichen. Es seien »weder schwarze noch grüne noch rote noch gelbe Aufmärsche«, sondern es handele sich um ein Bündnis der demokratischen Mitte des Landes. Die Parteien der demokratischen Mitte sollten das durchaus aufnehmen und »sich selber auch nochmal in diese Richtung stärker committen«, den »Grundkonsens der Demokraten« umzusetzen. Es sei wichtig, wer im öffentlichen Raum sichtbar sei. Wie nachhaltig die Wirkung sei, wisse er nicht - aber er sprach von einem ermutigenden Zeichen.
Mal abgesehen von dem, was Rechtsextremisten »an Nazi-Zeug« erzählten, sei die AfD eine reaktionäre Partei, so der Regierungschef. »Egal, was man anschaut - sie wollen nur zurück.« Kretschmann nannte etwa die Debatte über den Verbrennermotor und die Atomkraft. »Es gibt nur einen Gang, das ist der Rückwärtsgang.« Man müsse den Menschen deutlich machen, dass der Aufstieg der AfD auch für die Wirtschafts- und Exportnation gefährliche Folgen habe. Die Politik müsse direkt mit den Menschen reden und dürfe sie nicht belehren.
Die AfD im Landtag wehrte sich gegen die Vorwürfe. »Kretschmann seit 2016 die Chance gehabt, uns inhaltlich zu stellen. Stattdessen hat er uns ignoriert oder beschimpft oder beides«, sagte Fraktionschef Anton Baron am Dienstag. Die AfD sei nicht rückwärtsgewandt, sondern Taktgeber. »Und dass sieht auch stabil über ein Fünftel der deutschen Wähler so.«
»Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben bei uns nichts zu suchen und sind eine Bedrohung für die Region und den Wirtschaftsstandort«, teilten der Präsident der IHK Region Stuttgart, Claus Paal, und die dortige IHK-Hauptgeschäftsführerin, Susanne Herre, mit. »Als Exportregion profitieren wir von offenen Märkten und der europäischen Einigung. Wir erheben daher entschieden die Stimme gegen alle Versuche, Menschen aufgrund ihrer Herkunft das Recht abzusprechen, hier zu leben und zu arbeiten.«
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