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Kindermedizin in der Krise: Dramatischer Appell

Kinderkliniken am Anschlag, volle Praxen, vergriffene Medikamente - Fachärzte warnen vor einer Gesundheitskrise mit fatalen Folgen, vor allem für die kleinen Patienten. Das Land kündigt einen Gipfel an.

Intensivstation Kinderklinik
Blick in den Gang der Intensivstation einer Kinderklinik. Foto: Christoph Soeder
Blick in den Gang der Intensivstation einer Kinderklinik.
Foto: Christoph Soeder

Der Mangel an Medikamenten und die Überlastung der Kliniken im Südwesten gefährden die Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen. Mit dramatischen Worten haben rund zwei Drittel der Kinderkliniken im Südwesten einen Hilfsappell an die Landesregierung gerichtet. Das System werde seit Jahren kaputtgespart, dringende kinderchirurgische Eingriffe würden verschoben, heißt es in einem Protestbrief von Fachärzten aus 23 der rund 30 Kinderkliniken im Land. »Für uns besteht konkret die Angst, dass wir in überfüllten Notaufnahmen und ohne Aufnahmekapazitäten auf den Stationen die falschen Kinder nach Hause schicken, mit unter Umständen fatalen Konsequenzen - dass eines dieser Kinder morgens nicht mehr aufwacht.«

Die Lage in den Kliniken ist seit Wochen angespannt, unter anderem aufgrund einer deutlichen Zunahme von Atemwegserkrankungen durch RS-Viren. Die Atemwegserkrankung ist besonders für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder gefährlich. Diese könnten schwere Lungenentzündungen bekommen. Der Brief wurde am Montag an die Landesregierung, die Landtagsfraktionen und die Vorstände und Geschäftsführungen der beteiligten Kinderkliniken geschickt.

Die große Zahl akut kranker Kinder sowie die vielen chronisch kranken Patienten führten zu einem hohen Bedarf an pflegerischen und ärztlichen Maßnahmen, heißt es in dem Brief. »Dieser Bedarf geht über die Grenze dessen hinaus, was unser aktuelles System der stationären Kinder- und Jugendmedizin zu leisten im Stande ist.« Im System »erlös- und gewinnorientierter Fallpauschalen« lasse sich mit der Pädiatrie kein Geld verdienen, also würden Ausgaben gekürzt, wo es nur gehe, kritisieren die Mediziner. Sie könnten ihrer Verantwortung für die Versorgung der Patienten nicht mehr gerecht werden.

Der Bettenabbau in Kinder- und Jugendkliniken müsse ein Ende haben, schreiben die Fachärzte. Die Kinder- und Jugendmedizin sei stark abhängig von saisonalen Faktoren und Notfalleinweisungen. Wer eine durchschnittliche Auslastung von über 75 Prozent fordere, müsse der Bevölkerung auch sagen, dass dann in akuten Notlagen Kinder auf der Strecke bleiben würden.

Die Fachärzte fordern zudem, die Lage der Pflegekräfte in der Kinder- und Jugendmedizin zu verbessern - durch die Entlastung von administrativen Aufgaben, eine bessere Vergütung, einen besseren Personalschlüssel und mehr Entwicklungs- und Aufstiegschancen. Außerdem müsse das Vergütungssystem reformiert werden. Die Ärzte kritisieren eine »chronische Unterfinanzierung und Benachteiligung der Kinder- und Jugendmedizin«.

Der Hilferuf müsse alarmieren, sagte CDU-Fraktionschef Manuel Hagel. »Die akute Notlage führt nicht nur bei den betroffenen Eltern, sondern auch bei den behandelnden Ärzten und Pflegekräften zu Frustration und großen Sorgen«, sagte er.

Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) kündigte am Montag einen Fachgipfel Kindergesundheit an, der noch diese Woche stattfinden soll. Dabei soll die Lage mit den Ärzten und Kliniken erörtert werden, um »dort, wo von Landesseite überhaupt kurzfristig möglich, entsprechend gegenzusteuern«. Die FDP kritisiert, dass der Minister nur auf Druck handle.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte bereits vergangene Woche schnelle Unterstützung wegen der akuten Engpässe in der Kindermedizin angekündigt. Geplant seien Regelungen, um mehr Pflegekräfte in Kliniken zu finanzieren und Mehrarbeit überlasteter Praxen besser zu honorieren. Große Sorgen bereitet auch der Mangel an Medikamenten. Zuletzt gab es Lieferschwierigkeiten bei Kindermedikamenten wie Fieber- und Hustensäften. Auch Mittel für Erwachsene sind betroffen, etwa Krebsmedikamente und Antibiotika.

»Es stehen weder fiebersenkende Fertigarzneimittel noch bestimmte Antibiotika in ausreichender Menge zur Verfügung«, teilte die Landesapothekerkammer am Montag mit. Der Aufwand sei kaum mehr zu bewältigen, »da im Schnitt bei jedem zweiten Rezept, das in den Apotheken vor Ort eingereicht wird, ein Problem mit der Lieferbarkeit zumindest bei einem der verschriebenen Medikamente besteht«. Als Grund nannte die Kammer die aktuelle Erkrankungswelle, die Corona-Pandemie sowie der Ukraine-Krieg und die damit einhergehende Energiekrise. Die globalen Produktionsstätten und Lieferketten würden durch die Krisen erheblich beeinträchtigt.

Baden-Württemberg macht nun Druck: Die Bundesregierung müsse nun »umgehend geeignete Abhilfemaßnahmen« ergreifen, heißt es in einem Brief der Amtschefin des Gesundheitsministeriums, Leonie Dirks, an das Bundesgesundheitsministerium. Der Brief liegt der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart vor.

Bei einer Besprechung des baden-württembergischen Ministeriums mit den Gesundheitsämtern im Land sei die Lage als »in Teilen dramatisch« beschrieben worden, heißt es darin. Dirks kritisiert unter anderem eine Ungleichverteilung bestimmter Arzneien. Großhändlern sollten Vorgaben für eine Bevorratung gemacht werden, »die entsprechend des regionalen Bedarfs eine angemessene Versorgung sicherstellen«. Zudem sollten Maßnahmen geprüft werden, um »Hortungsbevorratungen« zu unterbinden.

Das Ministerium warnt zugleich davor, auf Arzneimittel für Erwachsene auszuweichen, »da wir darin eine Gefahr von Überdosierungen durch die anwendenden Eltern sehen«. Apotheken müsse die Möglichkeit gegeben werden, im Bedarfsfall selbst Arzneimittel herzustellen und diese unbürokratisch abzurechnen. Auch die Beschaffung dringend erforderlicher Medikamente aus dem Ausland sollte ermöglicht werden.

Wenig hält die Landesregierung von der Idee von Nachbarschafts-Flohmärkten im Kampf gegen den Medikamenten-Mangel. Bei so sensiblen Produkten dürfe man keine Abstriche bei der Sicherheit machen, sagte Minister Lucha der dpa. »Es ist ausschließlich den Apotheken vorbehalten, apothekenpflichtiger Arzneimittel ab- und weiterzugeben. Im privaten Bereich ist keine pharmazeutisch ordnungsgemäße Lagerung sichergestellt.« Denkbar wäre eine digitale Austauschplattform zwischen den Apotheken, falls mancherorts Medikamente vorrätig sind, die anderswo gebraucht würden.

© dpa-infocom, dpa:221219-99-955071/4