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Kinder- und Jugendpsychiatrien am Limit

Es ist ein Problem mit Ansage. Die angespannte Lage in den Kinder- und Jugendpsychiatrien hat sich schon vor der Pandemie abgezeichnet, Lockdown und Schulschließungen haben sie noch deutlich verstärkt. Das Land sieht die Politik in der Pflicht - und die Kassen.

Kinder- und Jugendpsychiatrie
Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen), Minister für Soziales und Integration in Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat
Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen), Minister für Soziales und Integration in Baden-Württemberg.
Foto: Marijan Murat

Vor eineinhalb Jahren befürchtete Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) noch, in den belasteten Kinder- und Jugendpsychiatrien sehe er erst die »Spitze des Eisbergs«. Wie recht er hatte. Denn erst jetzt, nach der Pandemie, nach den Schutzmasken und Tests offenbaren sich die Folgen der langen Corona-Phase für diejenigen, die sich am wenigsten dagegen wehren können. Nach dem Leben unter der Pandemie-Glocke leiden immer mehr Kinder und Jugendliche an Depressionen, an Magersucht oder Ängsten. Land und Kliniken kommen mit dem Ausbau der Plätze schon lange nicht mehr hinterher. Und Mediziner rechnen fest damit, dass der Höhepunkt an Belastungen erst bevorsteht.

Die Ausstattung mit Therapieplätzen sei im Südwesten bereits vor Corona überdurchschnittlich schlecht gewesen, sagt der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Esslingen, Gunter Joas. »Nun kommt hinzu, dass psychische Probleme nach einer Ausnahmesituation wie Corona oft erst verzögert durchschlagen«, erklärt Joas, der gemeinsam mit Reta Pelz aus Offenburg Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Chefärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrien (KJP) ist.

Seine Klinik mit derzeit 30 stationären und 11 tagesklinischen Plätzen sowie einer Handvoll Plätzen beim mobilen Behandlungsteam ist seit ihrer Eröffnung im Sommer 2015 durchgehend komplett ausgelastet. Die Warteliste ist um ein Mehrfaches länger und es dauert nach Angaben von Joas viele Monate, bis endlich ein Platz frei wird.

In der etwas größeren Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen sieht es nicht anders aus. »Wir hatten überall im Land bereits vor der Pandemie eine Überlastung, jetzt sind die Wartezeiten erheblich gestiegen«, sagt Tobias Renner, der Ärztliche Direktor und Leiter der Klinik. »Viele Kollegen schließen schon ihre Wartelisten.«

Es gibt aber nicht nur deutlich mehr Fälle, die Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen werden nach den Erfahrungen der Ärzte auch immer schwerer. »Kinder sind komplexer erkrankt als in der Zeit vor der Pandemie«, sagt Renner. »Da wird dann eine Magersucht begleitet von einer schweren Depression.« Es zeige sich nun, wie schwer unter anderem die Belastung durch die Schulschließungen für die Jüngeren gewesen sei.

Nach der Pandemie seien die psychischen Abwehrkräfte der Kinder und Jugendlichen aufgebraucht, sagt auch Chefarzt Joas. »Diese Zeit war für sie wie ausgestanzt. Ganz so, als hätte es die Phase gar nicht gegeben. Keine Tanzkurse, kein Ausflug ins Schullandheim, kaum Begegnung.« Erwachsene unterschätzten diesen Ausnahmezustand der jungen Menschen, der nicht selten in Ängsten, Depressionen und Essstörungen mündet. »Mit jedem Tag ohne Behandlung kann sich der Zustand verfestigen«, warnt er. Die Not der Kinder werde zunehmend größer. »Ich bin schon sehr lange im Geschäft, aber ich habe noch nie so viele suizidale Kinder gesehen.«

Ziel müsse es sein, trotz des enormen Drucks »vor die Welle zu kommen«, sagt Joas der dpa. »Es geht nicht darum, kinder- und jugendpsychiatrische Bettenburgen zu bauen. Wir müssen uns um Betreuung, um Therapie und um schnell wirkende Alternativen zum derzeitigen Angebot kümmern.«

Ärzte und Experten fordern vor allem eine langfristige Lösung, die Schulen, Jugendhilfe und auch Therapien mit einschließt. Wenig Verständnis zeigen sie für die Entscheidung, 136 zusätzliche stationäre Behandlungsplätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwar einzusetzen, das Angebot aber auf zwei Jahre zu befristen.

»Das ist ja völlig irre«, sagt Joas. »Finden Sie mal fertig ausgebildetes Personal, das nur zwei Jahre bleibt, und jemanden, der für eine solche befristet geöffnete Station zahlt.« Die Kapazitäten müssten langfristig ausgeweitet werden. Auch Renner sieht das so: »Davon auszugehen, dass wir nach zwei Jahren eine andere Situation haben, ist kaum nachvollziehbar. Im Gegenteil: Wir werden einen langen Nachhall der Pandemie haben«, warnt der Tübinger. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums können wegen der Raum- und Personalprobleme derzeit erst 80 der 136 Plätze betrieben werden.

Gesundheitsminister Lucha will die Krankenkassen notfalls zwingen, langfristig für eine Entfristung der Betreuungsplätze aufzukommen. Er werde am Mittwoch im Krankenhausausschuss feststellen lassen, dass es den Bedarf gebe, sagte der Grünen-Politiker bei einem Besuch in Esslingen. Sollten sie nicht von der längerfristigen Zahlung überzeugt werden können, müssten sie notfalls gezwungen werden. »Konfrontation wünscht sich niemand, aber ich kann im Ausschuss einer Konfrontation nicht aus dem Weg gehen, wenn hier kein Einvernehmen herrscht«, sagt Lucha. Auch eine Klage werde er in Kauf nehmen.

Allerdings zeigen die Kassen Verständnis für die Lage. »Eine Fortführung der zusätzlichen 136 Betten ist ein denkbarer Ansatz, um die Versorgungslage aktuell zu stabilisieren«, sagt DAK-Landeschef Siegfried Euerle der dpa. Das Problem werde dadurch aber nicht dauerhaft gelöst. AOK-Landeschef Johannes Bauernfeind erklärt, eine Entfristung könne vor Ort sinnvoll sein für eine Planungsperspektive. »Dies sollte jedoch für die betreffenden Standorte bedarfsorientiert beurteilt und im Landeskrankenhausausschuss beraten werden«, sagt er. Wichtig sei vor allem, frühzeitiger einzugreifen, um die stationäre Aufnahme zu verhindern.

© dpa-infocom, dpa:230314-99-950325/3