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Aktuell Personalmangel

Justiz an der Belastungsgrenze: Rechtsstaat in Not?

Richter und Staatsanwälte arbeiten im Südwesten seit Jahren am Anschlag. Strafverfahren ziehen sich in die Länge oder werden eingestellt. Ist der Rechtsstaat in Not?

Richter
Ein Richter rückt sich zum Auftakt eines Prozesses in einem Verhandlungssaal seinen Stuhl zurecht. Foto: Jens Wolf/Archiv
Ein Richter rückt sich zum Auftakt eines Prozesses in einem Verhandlungssaal seinen Stuhl zurecht. Foto: Jens Wolf/Archiv

STUTTGART. Trotz kräftiger Aufstockung des Personals in der Justiz fehlen in Baden-Württemberg immer noch Richter und Staatsanwälte. Seit 2016 sei die Justiz mit 700 neuen Stellen in der ganzen Fläche des Landes gestärkt worden, teilte das Justizministerium der Deutschen Presse-Agentur mit. Nun gebe es 251 zusätzliche Richter und Staatsanwälte. Trotzdem fehlten für eine 100-prozentige Personalausstattung immer noch rund 80 Richter und Staatsanwälte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit und bei den Staatsanwaltschaften. Justizminister Guido Wolf (CDU) will diese Stellen mit dem nächsten Doppelhaushalt 2020/2021 schaffen.

Das Justizministerium teilte mit, dass man seit 2016 fünf Millionen Euro in die Sicherheit an Gerichten und Staatsanwaltschaften investiert und durch Neubau und Sanierung rund 300 neue Haftplätze geschaffen habe. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit und bei Staatsanwaltschaften im Land seien 2017 74 Neustellen für Richter und Staatsanwälte geschaffen worden sowie 2018 weitere 91 Richterstellen, von denen zunächst 24 den Verwaltungsgerichten zur Bewältigung der Asylverfahrenswelle zugingen. Zur Bearbeitung der »aktuellen Flut« an Asylverfahren sind 2019 weitere 80 neue Stellen für Verwaltungsrichter sowie 48 Stellen für Servicekräfte vorgesehen.

Die Staatsschutzkapazitäten beim Oberlandesgericht Stuttgart seien durch einen neuen Staatsschutzsenat und insgesamt sechs weitere Richterstellen vergrößert worden. »Wir holen in der baden-württembergischen Justiz seit 2016 mit großen Schritten und erheblichen Anstrengungen Defizite auf, die dort über Jahre aufgelaufen sind«, sagte Justizminister Wolf der dpa.

Die Justiz arbeitet in vielen Teilen Deutschlands an der Belastungsgrenze. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in den Bundesländern. Obwohl viele Länder wie Baden-Württemberg das Justizpersonal bereits kräftig aufstocken, mangelt es oft immer noch an Personal. Richter und Staatsanwälte ächzen seit längerem unter einer Klageflut etwa bei Asylverfahren. Strafverfahren ziehen sich in die Länge oder werden eingestellt. Haftanstalten sind in manchen Bundesländern überbelegt. Verdächtige müssen wegen der Überlastung der Justiz auf freien Fuß gesetzt werden. Personelle Engpässe am Landgericht Stuttgart hatten etwa dazu geführt, dass zwei mutmaßliche Straftäter im November vor ihrem Prozess aus der Untersuchungshaft freigelassen werden mussten. Beide Männer waren seit April wegen versuchten Totschlags inhaftiert.

Der Deutsche Richterbund schlägt Alarm. »Die Arbeitsbelastung insbesondere in der Strafjustiz ist enorm hoch«, sagte Geschäftsführer Sven Rebehn der Deutschen Presse-Agentur. »Vor allem die Staatsanwaltschaften haben sich zum Nadelöhr bei der Strafverfolgung entwickelt.« Strafverfahren seien häufig viel aufwendiger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Häufig wiesen Straftaten Auslandsbezüge auf und richteten sich gegen international verzweigte Tätergruppen. Die auszuwertenden Datenmengen hätten sich vervielfacht - nicht selten fallen in Strafverfahren Hunderte Stehordner und mehrere Terabyte Daten an. Verfahren werden eingestellt oder dauern länger. »Das sind deutliche Anhaltspunkte für eine überlastete Justiz«, sagte Rebehn.

Das Personalproblem der Justiz wird zudem von einer anrollenden Pensionierungswelle verschärft. Bis zum Jahr 2030 gehen bundesweit laut Deutschem Richterbund bundesweit etwa 40 Prozent aller Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten Union und SPD einen »Pakt für den Rechtsstaat« vereinbart. Darin heißt es, dass 2000 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte sowie für entsprechendes Folgepersonal geschaffen werden sollen. »Wer den Rechtsstaat durchsetzen will, muss ihn entsprechend ausstatten«, sagte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) der dpa. Einige Länder stellten vermehrt Personal ein. Und der Bund gehe mit dem »Pakt für den Rechtsstaat« mit sehr gutem Beispiel voran. Damit kämen in Bund und Ländern 2000 Richter und 

15 000 Polizisten dazu. »Damit unterstützen wir die Länder, die Leistungsfähigkeit der Justiz noch weiter zu verbessern.«

Die Justizminister der Länder forderten auf ihrer Konferenz im November, der Bund müsse sich nicht nur einmalig an den Kosten für die 2000 neue Posten beteiligen, sondern langfristig. Die Länder pochen zudem immer stärker auf eine rasche Umsetzung des Pakts. "Wer in einem Koalitionsvertrag weitreichende Ankündigungen macht und 2000 Neustellen für Richter und Staatsanwälte verspricht, muss liefern", betonte Justizminister Wolf. Bei den Stellen für Richter und Staatsanwälte sei Baden-Württemberg "erheblich in Vorleistung" gegangen. "Die Länder, die wie wir, in den vergangen beiden Jahren bei der Stärkung der Justiz schon massiv investiert haben, dürfen jetzt nicht das Nachsehen haben", sagte Wolf. Weitsichtige Justizpolitik darf nicht bestraft werden." (dpa)